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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 5
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Glaser, Curt: Die Raumdarstellung in der japanischen Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0412
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404

Monatshefte für Kunstwissenschaft

Auge das ungewohnte und befremdende gibt, ist gerade die von der unsrigen grund-
verschiedene Perspektive. Für uns bedeutet die Projektion eines Raumes in die Fläche,
daß die Dinge nach der Tiefe zu sich verkleinern, parallele Gerade sich nähern, einem
gemeinsamen Fluchtpunkte entgegen. Wir sehen das täglich in der Erscheinung der
uns umgebenden Natur unverkennbar, wenn wir etwa eine lange Straße oder eine
gerade Allee hinabschauen, deren Häuser und Bäume in der Ferne immer kleiner
werdend einander sich nähern. So sind wir ohne weiteres mit dem Urteil bei der
Hand, daß eine Darstellung „falsch" sei, die diesen einfachen Gesetzen nicht Rechnung
trägt, haben uns gewöhnt, von der „falschen" Perspektive der Japaner zu reden, weil
die Fluchtlinien auf ihren Gemälden nidit nach der Tiefe zusammenlaufen, sondern
vor dem Bilde sich vereinigen.
Soll nun wirklich eine so einfache Erfahrung des täglichen Lebens den japani-
schen Künstlern entgangen sein, oder ist es am Ende nicht ein so selbstverständliches
Gesetz, daß der Künstler darzustellen habe, was von einem bestimmten Standpunkt
aus seinem Auge erscheint? Ist die Frage einmal gestellt, so ist auch die Antwort
nicht schwer. Ein Geheimnis können die perspektivischen Gesetze in ihren einfachsten
Grundformen unmöglich sein. Nidit um eine Entdeckung in diesem Sinne kann es
sich handeln, wenn sie in die künstlerische Praxis eingeführt werden, sondern nur um
einen Entsdiluß. Nicht das Können ist entscheidend, sondern das Wollen, in jenem
weiteren Sinne, dem das Wollen einer Zeit mit dem Stile selbst identisch ist, dem das
Können niemals die zeugende Kraft ist, sondern nur das Nichtkönnen ein Hemmnis für
den reinen Ausdruck des Gewollten.
Der Standpunkt, den zu umschreiben wir uns bemüht haben, ist im Grunde
kein anderer, als wir ihn einem jeden Kunstwerk gegenüber einzunehmen haben, den
nicht zu verlassen nur um so schwerer ist, je unmittelbarer uns die „Fehler" einer
fremdartigen Kunstäußerung ins Auge fallen. Die Worte „falsch" und „richtig" sollen
aus unserem Sprachschatz getilgt sein, wenn wir nunmehr an die Kunstwerke selbst
herantreten, deren Raumbild zu interpretieren — nicht zu beurteilen — wir unter-
nehmen.
Als erstes typisches Beipiel japanischer Malerei sei die beliebige Darstellung
eines Innenraumes, wie sie in ähnlicher Form häufig vorkommt, gewählt, eine Szene
aus dem Genji-monogatari von Takayoshi Tosa1) (XII. Jahrh.). (Abb. 1.) Wir blicken von
oben in den Raum hinab, die Bodenlinien steigen rasch an, und der obere Balken der
Teilungswand des Zimmers ist in Aufsicht gegeben, — der Horizont liegt hoch, wie es
in der uns geläufigen Ausdrucksweise heißt. Aber die Linien nähern sich nicht in
ihrem Verlaufe, sind auch nicht parallel, sondern sie weichen auseinander, deutlich
meßbar etwa an dem er- wähnten Oberbalken der Querwand.
Versuchen wir, uns von unseren Sehgewohnheiten freimachend zu interpretieren,
was wir vor Augen haben, so ergibt sich folgendes: Die Rückwand des Zimmers ist
der Teil, der unserem Auge am nächsten liegt, hier müssen wir anfangen, zu sehen,
9 The Kokka, an illustrated monthly journal of fine and applied arts of Japan and other
Eastern countries. Tokyo. Heft XVIII, Tafel 3.
 
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