Glaser. Die Raumdarstellung in der japanischen Malerei
409
Abb. 6. Ans Buddhas Schriften. VIII. Jahrh.
Kokka 11, 1 □
Größenabstufung findet überhaupt nicht statt. Tizians Assunta ist nur ein Beispiel unter
vielen. Wird die Raumtiefe nutzbar gemacht, d. h. als Richtung vom unteren zum
oberen nicht die Vertikale, sondern die Schräge gewählt, so ist dem Europäer wie-
derum naturgemäß die irdische Szene der Vordergrund und das nahe, die Himmels-
erscheinung das ferne und kleiner gesehene. Raffaels Transfiguration ist ein Repräsen-
tant dieser Darstellungsform. Die Größenunterschiede sind allerdings nur gering. Die
wirklichen Fernen wird man bei nordischen Raumkünstlern zu suchen haben, etwa bei
Grünewald, der im Marienbilde des Isenheimer Altars Gottvater mit den Engeln in den
Lüften erscheinen läßt. Der Beschauer steht auf der Erde, dicht vor den Menschen
drunten, und droben in weiter Ferne erst und in winzig kleinem Maßstab wird die
himmlische Erscheinung sichtbar.
Es ist diejenige Form der Darstellung einer Lufterscheinung, die in der Konse-
quenz der auf unmittelbare Illusion ausgehenden Raumwiedergabe der europäischen
Kunst sich notwendig einstellen mußte, und das gelegentliche Vorkommen einer ent-
gegengesetzten Orientierung, die den Beschauer mit emporhebt in die Höhe der Him-
melserscheinung selbst und auf die Erde herabblicken läßt, hat etwas durchaus be-
fremdendes. Die zwei bekanntesten Beispiele dieser Art sind Dürers Allerheiligenbild
und Raffaels Vision des Ezechiel. Allerdings besteht noch immer ein prinzipieller
Unterschied gegenüber der japanischen Anschauung, denn bei Raffael gleichwie bei
Dürer sehen wir die Erscheinung in den Lüften vornan im Raume und an ihr vorbei
gleichsam und in schräger Richtung hinter ihr die Erde drunten, während die japanische
Gottheit, und wir mit ihr, immer das Tiefland vor sich und zu Füßen hat. Aber auch
in der Abwärtsrichtung des Blickes allein stehen die beiden Bilder des Raffael und Dürer
soweit außerhalb des gewohnten, daß in neuester Zeit von Oskar Wulff der Versuch unter-
nommen wurde, eine besondere Entwicklungsreihe aufzustellen, die zu dieser Raum-
darstellung in Form der „Niedersicht" hinführte.1) Es ist Wulff nicht nur gelungen, die Vor-
9 Oskar Wulff: Die umgekehrte Perspektive und die Niedersicht. Eine Raumanschauungsform
der altbyzantinischen Kunst und ihre Fortbildung in der Renaissance. Kunstwissenschaftliche Bei-
träge August Schmarsow gewidmet. Leipzig 1907.
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Abb. 6. Ans Buddhas Schriften. VIII. Jahrh.
Kokka 11, 1 □
Größenabstufung findet überhaupt nicht statt. Tizians Assunta ist nur ein Beispiel unter
vielen. Wird die Raumtiefe nutzbar gemacht, d. h. als Richtung vom unteren zum
oberen nicht die Vertikale, sondern die Schräge gewählt, so ist dem Europäer wie-
derum naturgemäß die irdische Szene der Vordergrund und das nahe, die Himmels-
erscheinung das ferne und kleiner gesehene. Raffaels Transfiguration ist ein Repräsen-
tant dieser Darstellungsform. Die Größenunterschiede sind allerdings nur gering. Die
wirklichen Fernen wird man bei nordischen Raumkünstlern zu suchen haben, etwa bei
Grünewald, der im Marienbilde des Isenheimer Altars Gottvater mit den Engeln in den
Lüften erscheinen läßt. Der Beschauer steht auf der Erde, dicht vor den Menschen
drunten, und droben in weiter Ferne erst und in winzig kleinem Maßstab wird die
himmlische Erscheinung sichtbar.
Es ist diejenige Form der Darstellung einer Lufterscheinung, die in der Konse-
quenz der auf unmittelbare Illusion ausgehenden Raumwiedergabe der europäischen
Kunst sich notwendig einstellen mußte, und das gelegentliche Vorkommen einer ent-
gegengesetzten Orientierung, die den Beschauer mit emporhebt in die Höhe der Him-
melserscheinung selbst und auf die Erde herabblicken läßt, hat etwas durchaus be-
fremdendes. Die zwei bekanntesten Beispiele dieser Art sind Dürers Allerheiligenbild
und Raffaels Vision des Ezechiel. Allerdings besteht noch immer ein prinzipieller
Unterschied gegenüber der japanischen Anschauung, denn bei Raffael gleichwie bei
Dürer sehen wir die Erscheinung in den Lüften vornan im Raume und an ihr vorbei
gleichsam und in schräger Richtung hinter ihr die Erde drunten, während die japanische
Gottheit, und wir mit ihr, immer das Tiefland vor sich und zu Füßen hat. Aber auch
in der Abwärtsrichtung des Blickes allein stehen die beiden Bilder des Raffael und Dürer
soweit außerhalb des gewohnten, daß in neuester Zeit von Oskar Wulff der Versuch unter-
nommen wurde, eine besondere Entwicklungsreihe aufzustellen, die zu dieser Raum-
darstellung in Form der „Niedersicht" hinführte.1) Es ist Wulff nicht nur gelungen, die Vor-
9 Oskar Wulff: Die umgekehrte Perspektive und die Niedersicht. Eine Raumanschauungsform
der altbyzantinischen Kunst und ihre Fortbildung in der Renaissance. Kunstwissenschaftliche Bei-
träge August Schmarsow gewidmet. Leipzig 1907.