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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 5
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0480
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472

Monatshefte für Kunstwissenschaft

Schriften völlig unberücksichtigt geblieben sind,
ich möchte nur auf das Unzulässige hinweisen
je nach Gutdünken Stimmungsurteile und Lebens-
maximen, die Ansichten Kurzsiditiger und Weit-
schauender, die Behauptungen stürmischer Jugend
und geruhigen Alters, die Künstlergedanken
revolutionärer und konservativer Zeiten als
gleichwertig zu behandeln. Auf solche Weise
kann man in der Tat mit leichter Mühe alles
beweisen, was man beweisen möchte, und be-
weist damit doch gar nichts. Und auf solchen
Wegen mag man zu so seltsam sicheren Ur-
teilen kommen, wie der Verfasser. So wenn
er Michelangelo korrigiert oder wenn er be-
hauptet, daß „die Höhe einer Kunst immer
nur mehr oder minder idealisierte ruhige reine
Charakterköpfe kennt" oder wenn er der
italienischen Kunst eine bessere Zensur erteilt
als der deutschen, weil „deutsche Kunst be-
friedigt, italienische die Sehnsucht weckt und
nährt. Aber der große Mensch strebt nicht nach
Ruhe, sondern nach ewiger Bewegung."
Kein Mensch wird es Kurt Münzer übel
nehmen, wenn sein Kunstgeschmack besonderer
Art ist und wenn ihm für ein — ich möchte
sagen naturwissenschaftliches — Verstehen ge-
wisser Kunstrichtungen das Organ fehlt; aber
das berechtigt ihn doch nicht, es als „die prak-
tische Ästhetik der Künstler" zu verkündigen,
daß „der Impressionismus darin schwelgt, den
Finger auf alle Unklarheiten der Natur zu legen"
und daß „die Kunst alles, was das Leben, das
Gemeinwirkliche leisten kann, von ihren Auf-
gaben auszuschließen hat." Zum Beweis aber
dafür, daß in der heutigen Kunst der „Krudi-
täten und Horribilitäten" viele geschaffen würden
und „alle Luftlichter und Reflexe der Natur dort
nachkopiert würden, wo sie durch einen Zufall
hingeraten sind und ,gesetzlich' gar nicht hin-
gehören", zitiert der Verfasser Otto Knille! Wie
nun, wenn er an dieser Stelle Liebermann oder
Louis Corinth oder van Gogh zitiert hätte?
Vielleicht daß er dann eingesehen hätte, daß
die Künstler doch bisweilen außerordentlich ver-
schieden in ihren Kunstanschauungen sind, —
sein müssen. Und vielleicht hätte ihn das ver-
anlaßt, seine Feder niederzulegen und einstweilen
dem Problem nachzusinnen, wie es kommt, daß
die Künstler, wenn sie über die Kunst schreiben,
die köstlichsten Wahrheiten zum Verständnis ihrer
persönlichen Kunst schreiben, daß sie aber sehr
selten ein Verständnis für eine völlig anders
geartete Kunst zeigen. Vielleicht hätte ihn solche
Reflektion dann dazu angeregt, die ganze Frage
anders anzupacken und zu untersuchen, welchen
Einflüssen Kunstanschauung und Kunst unter-
liegen, und was als Kern bleibt, wenn man von

den Einzelerscheinungen zum „Urphänomen"
— um mit Goethe zu reden — vorzudringen
s""' Theodor Volbehr.

Wolfgang v. Oettingen. Berlin. (Stätten
der Kultur. Herausgegeben von Georg Bier-
mann. Band 1.) Verlag von Klinkhardt &
Biermann, Leipzig.
Ein Gesamtbild der Kulturgeschichte Berlins
in seiner fast neunhundertjährigen Entwicklung
vom Fischerdorf bis zu der heutigen viel-
bewunderten Dreimillionen - Stadt. Und dies
alles in einem kaum fingerstarken Bande, der
noch dazu mit vielen Dutzenden von trefflichen
Abbildungen aus dem neuen und alten Berlin
geschmückt ist. Welche umfangreiche Literatur
muß man sonst durcharbeiten, um ein einigermaßen
sicheres Urteil über ein einzelnes Gebiet der
historischen Entwicklung Berlins zu gewinnen.
Hier dagegen ist in der Tat der Versuch ge-
glückt, aus allen Hauptgebieten der Berliner
Kulturgeschichte aus dem politischen, kommu-
nalen, religiösen, wissenschaftlichen, literarischen,
künstlerischen, volkswirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Leben der Hauptstadt die gesicherten
Resultate der Spezialforschungzusammenzufassen
und in fesselnder Weise für die große Menge
der Gebildeten zu schildern.
Der Verfasser des Buches, Wolfgang v. Öt-
tingen, hat die schwierige Aufgabe mit der
wissenschaftlichen Sorgfalt und dem Takt ge-
löst, welche schon so manche seiner früheren
Arbeiten auszeichnete. Über sein eigentliches
Fach, die Kunstgeschichte und Kunstkritik ist er
diesmal weit hinausgegangen. Die übrigen Ge-
biete in dem vielseitigen Bilde der Berliner
Kultur, namentlich die Geschichte des geistigen
Lebens der Bevölkerung, nehmen einen wesent-
lich größeren Raum in seinen Schilderungen ein.
Sehr fesselnd sind besonders die Abschnitte über
das Aufblühen der Wissenschaften in Berlin,
über das religiöse Leben, über die Stellung der
einzelnen Konfessionen zueinander, die Pro-
testanten, Katholiken und Juden im Laufe der
letzten drei Jahrhunderte. Musik, Literatur,
Bühne, bildende Kunst und die Art wie die Ber-
liner Bevölkerung sich im Laufe der letzten
Jahrhunderte zu allen diesen Dingen verhalten
hat, wird von dem Verfasser treffend ge-
schildert. — Die zahlreichen Abbildungstafeln
stellen größtenteils Gebäude und Straßenbilder
aus dem alten, heute längst verschwundenen
Berlin dar. Aber auch aus dem Berlin der Gegen-
wart sind manche interessante Darstellungen
ausgewählt. Auf diese Weise bietet das kleine
 
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