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Mitteilungen des Württembergischen Kunstgewerbevereins — 1907-1908

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Pazaurek, Gustav Edmund: Die Stuttgarter Gewerbeschule für Frauen und Mädchen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7713#0110
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DIE STUTTGARTER GEWERBESCHULE
FÜR FRAUEN UND MÄDCHEN.

Die Entwicklung, die in Deutschland das kunstgewerbliche Schulwesen in den
letzten Jahren gefunden, kann uns mit aufrichtigem Stolze und großer Genugtuung
erfüllen. Das möge man mir, der ich aus Oesterreich komme und die dortigen kunst-
gewerblichen Schulverhältnisse genau kennen gelernt habe, aufs "Wort glauben: In
Oesterreich, wo die Moderne in den kunstgewerblichen Lehranstalten direkt unter
englischer Patronanz verhältnismäßig früh und recht kräftig einsetzte, ist man seit
ungefähr drei Jahren stark verschüchtert worden und laviert zum Teile zwischen
verschiedenen Polen. Die reichsdeutschen kunstgewerblichen Anstalten dagegen waren
im Anfang der Stilbewegung viel zurückhaltender; nur allmählich verjüngten sich der
Lehrplan und die Lehrkräfte, aber mit umso größerer, echt deutscher Konsequenz
wurde sodann die Modernisierung zur Durchführung gebracht, und auf der letzten
Dresdner Kunstgewerbeausstellung konnte man das kunstgewerbliche Schulwesen, sogar
gerade der von oben in diesem Sinne wenig aufgemunterten preußischen Lehranstalten,
in der ganzen prächtigen Entfaltung kennen lernen, die dem temperamentvollen und
zielbewußten Eingreifen und Zusammenwirken tüchtiger Persönlichkeiten zu ver-
danken ist.

Aber mit jenen Schulen, die in aller Munde sind und die sich in Dresden in großen
geschlossenen Gruppen auszuzeichnen Gelegenheit hatten, ist die Entwicklung keines-
wegs abgeschlossen. Ueberall hin, in alle Kreise müssen die neuen Ideen siegreich
durchdringen, wenn die große stilistische Bewegung unserer Tage nicht eine lediglich
interessante Episode bleiben soll. Die bereits weithin bekannten Lehranstalten haben
selbst das größte Interesse daran, überall wackere Mitkämpfer und Bundesgenossen
zu finden, wenn sie dies auch mitunter in sachlich nicht begründeter Eifersüchtelei
nicht immer eingestehen wollen.

In "Württemberg liegen die Verhältnisse im allgemeinen sehr günstig. "Weder die
Krone noch die Regierung haben der modernen Bewegung irgend welche Schwierig-
keiten in den "Weg gelegt; man kann im Gegenteile sagen, daß sich alles künstlerisch
Neue von allen Seiten fast ausnahmslos nicht nur einer wohlwollenden Duldung, son-
dern geradezu einer sehr tatkräftigen und aufopfernden Unterstützung und nach-
haltigen offiziellen Förderung zu erfreuen hat. Die Stuttgarter Kgl. Kunstgewerbe-
schule hat durch die Berufung neuer Lehrkräfte einen ausgesprochen linksradikalen
Einschlag erhalten, die „Lehr- und Versuchs-"Werkstätten" genießen namentlich auch
außerhalb "Württembergs einen vorzüglichen Ruf, erstklassige Kräfte hat die Stuttgarter
technische Hochschule heranzuziehen gewußt, desgleichen das neue Ateliergebäude
in Stuttgart. Neues Leben entfaltet auch die städtische Kunstgewerbeschule in Stuttgart
(Torstraße) und zahlreiche sonstige Anstalten in der schwäbischen Residenz, wie in
den anderen württembergischen Städten, von denen nur Reutlingen und Gmünd genannt
sein mögen.

Die eigentliche, breite Basis konnte aber die ganze moderne, ästhetische Bewegung
erst in dem Augenblicke gewinnen, als es ihr gelang, in die Familie, in unser Heim
einzudringen, mit anderen "Worten: als sich ihr das ewig "Weibliche anschloß. Zwischen
Theorie und Praxis ist bekanntlich überall eine recht breite Kluft zu überbrücken,
und was hätten die eindringlichsten Vorträge, was die besten Ausstellungen, was die
verführerischsten Aufsätze in den Kunstzeitschriften gefruchtet, wenn sich die Damen
ihre lauschigen Boudoirs weiter mit Makartsträußen, hunderten von Ansichtskarten
und all dem Flittertand vollgestopft hätten, der unter dem verlockenden Namen
..Liebhaberkünste" über sie eine geradezu dämonische Zaubermacht erhalten hatte.
 
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