Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung [Hrsg.]
Nassauische Annalen: Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung — 62.1951

DOI Artikel:
Böhme, Hans-Georg: Zur Leiden-Christi-Verehrung im Spätmittelalter: bau- und religionsgeschichtliche Untersuchungen auf Grund der Weilburger Passionskultstätte
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.62671#0095
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zur Leiden-Christi- Verehrung im Spätmittelalter

81

Reichs durch die Seldschuken und zunehmende Behelligungen abendländischer Orientpilger
führten im Zusammenwirken mit der wachsenden Bedeutung mystischer und asketischer Stim-
mungen, deren reinen Verfechtern sich naturgemäß Abenteurer aller Schattierungen zugesellten,
zur Bewegung der Kreuzzüge65). Während dieser Zeit verlor die Jerusalemreise weithin den
Charakter einer individuellen religiösen Übung. Die von Ritterheeren unternommene Waffenfahrt
gegen die Heiden wurde jedoch nach dem Verlust der letzten abendländischen Stützpunkte in
Palästina seit 1291 wieder abgelöst durch die von politischen und wirtschaftlichen Antriebs-
momenten freie Frömmigkeitsleistung einzelner Pilger. Sie entwickelten im wesentlichen die
Andachtsformen, mit denen wir uns hier zu befassen haben.
Da die Jerusalemwallfahrt immer wieder als Kirehenstrafe verhängt wurde66), lag es nahe,
schließlich auch Ablässe für den Besuch der dortigen Passionsstätten zu gewähren. Eine ausdrück-
liche Verleihung derartiger Privilegien durch die Kurie hat zunächst aber nicht stattgefunden.
Erst um 1345 zählte ein italienischer Franziskaner, der für diese Liste offenbar die nichtautorisierte
fromme Erfindung eines Pilgerführers in Jerusalem übernommen hatte, eine große Zahl teils
vollständiger Ablässe an Schuld und Strafe auf, die in der Folgezeit — oft dankbar wiederholt —
auf den Papst Sylvester zurückgeführt wurden67). Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts setzte sich
tatsächlich allgemein die Auffassung durch, daß der Besuch bestimmter palästinensischer Ört-
lichkeiten —• wenn man „die wahre Beicht getan" hat —; einen vollkommenen oder befristeten
Ablaß bewirkt68). Die hervorragende Bedeutung dieser Materie für die Zeit vor der Reformation
wird nur bestätigt, wenn wir hören, daß verschiedene Jerusalemer Gnadenstätten seit 1480
endlich sechs echte päpstliche Ablässe verliehen bekamen69). Sie veranlaßten noch einmal eine
besondere Steigerung der Freudigkeit, nach Palästina zu pilgern.
Von alters her ist — etwa schon von den Kirchenvätern Hieronymus und Augustin — eine
gewisse Kritik am Wallfahrtswesen geübt worden70). Die Orientreisen galten unbeschadet dessen
in den Augen der Zeitgenossen immer wieder als besondere religiöse Leistungen. Wer in Palästina
geweilt hatte, erfreute sich betonter Wertschätzung. Es ist daher und in Anbetracht der großen
Schwierigkeiten, die ehemals mit einer derartigen Unternehmung verbunden waren, nicht zu
verwundern, daß — zur Erinnerung und als Dank für die glückliche Heimkehr — im Abendland
zahlreiche mannigfaltig motivierte Wiedergaben des Heiligen Grabes als ehrwürdigsten Besitzes
der Christenheit entstanden.
Die seit dem 8. Jahrhundert im deutschen Raum nachweisbaren Fahrten nach Palästina
haben in solchen Gräbern Christi „steinerne Denkmäler ihrer Geschichte" hinterlassen71). Fürst-
liche Pilger versprachen mitunter schon beim Auszug die Errichtung einer Kirche72). Andere
— oft hohe Prälaten — brachten Passionsreliquien in die Heimat mit und ließen zu ihrer Auf-
bewahrung besondere Kapellen nach dem Vorbild der Grabeskirche errichten73). Diese Nach-
gestaltungen sollten nicht zuletzt zum Ausdruck bringen, daß der Erlöser nun wirklich auch in
Deutschland heimisch geworden war74). Vielfach stellte man die Heiliggrabarcliitekturen auf
Friedhöfe, um den Bestatteten die Sühnewirkung des Opfers Christi zugute kommen zu lassen75).
Um die Bedeutung des eigenen Sterbens gegenüber dem des Heilands zu mindern, fühlten sich
mittelalterliche Menschen in ihrer religiösen Bescheidenheit gelegentlich wohl auch yeranlaßt,
die eigene Ruhestätte in der Gestalt eines Heiligen Grabes in Auftrag zu geben76). In Einzelfällen
kamen noch andere Baumotive in Betracht. So errichtete man etwa eine Heiliggrabkapelle
— „weil hier Gott geruht" — an der Stelle, wo man eine gestohlene Hostie wiedergefunden hatte77),

65) ebenda 195. — 66) ebenda 11.

67) H. Thurston S. J., The Stations of the Cross, 1906; N. Paulus, Die Ablässe der Kreuzweg-

andacht, in: Theologie u. Glaube, Zs. f. d. kath. Klerus, 5. Jg. 1913 S. 5 ff.

68) Paulus 13 ff. Die Pilgerliteratur verzeichnet diese Stätten sehr aufmerksam: ubi es, signum
crucis, est absolutio culpae et po'enae. Manche ihrer Autoren sehen den totalen Ablaß gar schon mit

dem Betreten des Heiligen Landes in Jaffa gegeben. — 69) Dalman, Grab Christi 19 f.

70) Röhricht, Kreuzzüge 4; K. A. Kneller S. J., Gesch. d. Kreuzwegandacht v. d. Anfängen

b. z. völl. Ausbildung, in: Stimmen aus Maria-Laach, Kath. Bl. XXV. Erg.-Bd. 98. Erg.-Heft,
1908 S. 8 ff. — 71) Dalman, Grab Christi 10.

72) R. Röhricht, Deutsche Pilgerreisen n. d. Hl. Lande, 1889 S. 11.

73) A. Schwarzweber, Das Hl. Land i. d. dt. Bildnerei d. Mittelalters (Forsch, z. Gesch. d.
Kunst a. Oberrhein, hrsg. v. K. Bauch, Bd. 2 1940 S. 1; Dalman, Grab Christi 19.

74) Dalman, Grab Christi 9 ff.

75) Es ist gewiß kein Zufall, wenn die — Karner, auch Kärner, Kerner, Gerner genannten —
Beinhäuser auf süddeutschen, besonders österreichischen, Friedhöfen Anklänge an die Grundform
der Jerusalemer Grabesrotunde zeigen. Vgl. ihre Bezeichnung als Kirchen ,,sub voce sancti
sepulchri", „Herrgottsruhkapellen".

76) Vgl. Schwarzweber 57 f. — 77) Dalman, Grab Christi 20 f.

Nass. Ann. Bd. 62

6
 
Annotationen