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Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung [Editor]
Nassauische Annalen: Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung — 63.1952

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Weiler, Clemens: Romantische Baukunst in Nassau
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https://doi.org/10.11588/diglit.62672#0250
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Clemens Theiler

Architecture", das in drei Bänden von 1830 bis 1840 in London erschienen war,
entliehen und erst nach Beendigung des Schloßbaus 1855 zurückgegeben.
England ist das Land, in dem die Gotik nicht nur über das Ende des Mittelalters
hinaus immer fortgelebt hat, sondern in dem auch von Strawberry-Hill aus in der
Mitte des 18. Jahrhunderts die Neugotik ihren Anfang genommen hat12). Hatte
man zunächst nur in einer spielerischen und dekorativen Art gotische Elemente
verwendet13), so ging man jetzt in England daran, sich bestimmte Vorbilder der
mittelalterlichen Architektur auch zur Errichtung neuer Bauwerke zu wählen.
Diesem Zwecke dienten Werke wie das von Pugin, dem eifrigsten Vorkämpfer der
Neugotik, verfaßte und nicht etwa einem ästhetischen oder archäologischen
Interesse. Pugin sagt selbst im Vorwort zum zweiten Band seines Werkes: „Diese
Auswahl ist ausdrücklich in Hinsicht auf die praktische Brauchbarkeit hin ge-
troffen worden14)". Die in dem Werk angeführten Beispiele sind meist dem 15.
oder sogar 16. Jahrhundert entnommen, d. h. der spätesten schon durch die
Renaissance beeinflußten Epoche der Gotik. Diese Zeit liebte eine ausgesprochene
Horizontalgliederung der Bauten, rechteckige Fensteröffnungen und helmlose
Türme. Die Neugotik, die diese Gestaltungsprinzipien übernahm, fand haupt-
sächlich ihre Anwendung bei der Errichtung neuer Adelssitze in England. Aber
auch in Deutschland wurden damals Burgen und Schlösser in diesem Stil zu
Wohnsitzen umgebaut oder sogar neu errichtet. Schinkel selbst hatte 1834 Ent-
würfe für Schloß Kurnik bei Posen, 1836 zum Ausbau von Schloß Stolzenfels am
Rhein und 1838 für Babelsberg bei Berlin geliefert15). Um diese Zeit entstanden
die Burg Lichtenstein 16), der Hohenzollern 17), die Wartburg18) und Hohen-
schwangau19), alles selbständige Schöpfungen der Romantik, keine archäologisch
getreuen Restaurationen wie sie erst zum Ende des 19. Jahrhunderts üblich
wurden, aber dafür vollkommen dem Landschaftsbild angepaßt. Es nimmt nicht
wunder, daß gerade die Burgen und Schlösser aus der Mitte des Jahrhunderts
auch heute noch zu den populärsten und meistbesuchten zählen.
Boos errichtete auf der Schaumburg einen neuen Flügel, der zu ebener Erde
den Marstall enthielt, im ersten Geschoß das Münzkabinett und das Archiv, im
zweiten die Wohnräume des Erzherzogs mit dem heute im Innern noch unausge-
bauten Rittersaal. Das dritte Stockwerk enthielt die Dienerschaftsräume. Auf der
Giebelseite wird der Neubau von zwei schmalen und niedrigen Türmen flankiert,
während sich im Winkel zwischen dem Neubau und dem mit einer neuen Fassade
verkleideten alten Teil des Schlosses etwas vorgeschoben ein hoher Turm erhebt,
der, beiläufig gesagt, den Kardinalpunkt der nassauischen Landesvermessung ent-
hält. Die Traufseite des Neubaus wird nach dem Hof zu durch einen giebelbe-
krönten Risalit in der Mitte unterbrochen. Der Risalit ist zu beiden Seiten von
turmähnlichen Pilastern eingefaßt und nimmt so das Motiv der westlichen Giebel-
seite wieder auf. Die Fenster sind in dem Risalit besonders reich und in jedem
Stockwerk verschieden gebildet. Das Dach ist so niedrig, daß es vollständig hinter
dem das ganze Gebäude bekrönenden Zinnenkranz verschwindet.
Über die einzelnen Baustadien sind wir genau im Bilde, einmal durch die auf
der Schaumburg selbst heute noch vollständig erhaltenen Bauakten und einen
großen Teil der Pläne und Werkzeichnungen, zum anderen aber auch durch
95 Privatbriefe, die Erzherzog Stephan an Boos gerichtet hat und das Stadtarchiv
in Diez bewahrt. Diese Briefe, die 1851 beginnen und bis in das Todesjahr

12) vgl. P. Clemen, Strawberry-Hill und Wörlitz, von den Anfängen der Neugotik, in: Neue Bei-
träge Deutscher Forschung, Wilh. Worringer z. 60. Geburtstag, hrsg. v. E. Fider, 1943 S. 38—44.

13) Clemen S. 44 „nur eine große, sehr kostbare, zusammengewürfelte Wunderlichkeit ohne

Harmonie." = 14) „and this selection has been made expressly with a view to practical utility."

15) vgl. A. v. Wolzogen, Aus Schinkels Nachlaß, 4 Bde. 1862—64. — 16) 1839 ff. für den Herzog

von Urach von Carl Alex. v. Heideloff errichtet. — 17) 1850 ff. nach der Übernahme durch Preußen

von Aug. Stüler erbaut. — 18) 1847 ff. von Hugo v. Ritgen erbaut. — 19) 1832 ff. unter der Ober-

leitung von Domenico II Quaglio erbaut.
 
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