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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Behne, Adolf: Berliner Probleme: Hundert Meter vor dem Ziele....
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0078

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Berliner Probleme

Hundert Meter vor dem Ziele.....

Im Berliner Straßennetz gibt es einen besonders merkwürdigen Punkt:
das Schloß mit den beiden platzartigen Straßenbreiten vor seiner Nord-
und vor seiner Südfront.

Die „Linden" herunter kommt ein sehr starker Verkehr an Personen- und
Lastfahrzeugen. Die Bahn etwa in Höhe des Zeughauses zu queren, ist
immer unangehm. Der Verkehr passiert die Schloßbrücke, aber sonder-
bar: der breite Platz zwischen Schloß und Lustgarten, der sich unmittel-
bar hinter der Brücke öffnet, ist fast leer. Vom Fenster des Kronprinzen-
palais' aus kann man es beobachten: dichtes Wagengedränge noch auf
der Brücke, und der weite Platz leer.
Wo bleiben die Wagen?

Sie biegen sofort hinter der Brücke rechts ein, um gleich danach, hinter
dem National-Denkmal, wieder links einzubiegen, in die Königstraße
hinein, nach Osten.

Die Königstraße herauf kommt ein nicht minder starker Verkehr. Er be-
nimmt sich sehr ähnlich. An der Schloßfreiheit angelangt, setzt er seinen
Weg nicht geradlinig fort, sondern nimmt, das Schloß umfahrend, zwei-
mal die Ecke, erst rechts, dann links, um über die Schloßbrücke die
„Linden" zu gewinnen.

Dieser so wenig wie der von Westen kommende Verkehr sind durch
Sackgassen zu ihren Wendungen gezwungen. Die Straßen führen weiter.
Aber die direkte Fortführung der „Linden", die Kaiser Wilhelmstraße,
erst in den achtziger Jahren durchgebrochen, führt in den Norden, in das
alte Scheunenviertel, jetzt vor die Front der Volksbühne, die Fortführung
der Königstraße geht bis zu den Ministergärten. Aber weder die Volks-
bühne noch die Minister sind das Ziel der Wagen. Es handelt sich viel-
mehr um den wichtigsten Durchgangsstrom Berlins, von Westen nach
Osten, von Osten nach Westen. Der Hauptverkehr aus dem Osten, dessen
mächtige Lebendigkeit immer wieder imponieren muß, kommt über die
Frankfurter Allee, Große Frankfurter Straße . . . letzte Etappe des Weges
Moskau, Warschau, Posen Frankfurt an der Oder, Berlin. Die „Linden"
sind letzte Etappe des Weges Paris, Köln, Hannover . . . mit dem groß-
artigen Schlußstück Heerstraße, Kaiserdamm, Charlottenburger Chaussee,
Brandenburger Tor, Unter den Linden, und das Groteske ist nun, daß,
stünde nicht das über Eck gestellte Schloß mit seiner östlichen Schulter
dazwischen, (ursprünglich mit noch anderen Bauten), die beiden Ver-
kehrsadern, die zueinander gehören wie rechte und linke Hand und die
einander auf jeden Fall suchen müssen, sich genau treffen würden, wie
jeder Blick auf die Karte Berlins lehrt. (Ich weiß schon, daß zwischen den
Risstellen auch noch einiges andere liegt, ein Teil des mittelalterlichen
Straßengefüges. Aber zur sichtbaren Entscheidung kommt die Sache am
Schloß.)

Wir haben folgende Situation: ein glänzend ausgebauter Weg bricht kurz
vor dem Ziele ab. Von der Gegenseite her ein ebenso hoffnungsvoller
großer Absatz, klar auf den ersten Weg gerichtet, bricht ebenso ab.
Mühsam, nur auf Umwegen, mit Drehungen und Wendungen kommt zu-
sammen, was notwendig zusammengehört — und ohne jene Barriere
mühelos ineinanderfließen würde.

Ist das nur eine beliebige, durch die Summe historischer Zufälle ver-
schuldete Verkehrsmisere irgend einer Großstadt? Es ist immerhin die
Situation in der City der deutschen Reichshauptstadt . . . und ist es
nicht ein Stück deutschen Schicksals? — so daß der Charakter des
Straßennetzes in der Herzkammer der deutschen City etwas wie eine
deutsche Schicksalslinie wird: zähe unbeirrte Arbeit kilometerlang, Ab-
bruch, Ausweichen „100 m vor dem Ziele".

Die Struktur einer Weltstadt darf einmal auch als abstrakte Form be-
trachtet werden, bei deren Deutung nicht in erster Linie die jeweilige
historische Motivierung entscheidet (die niemals und bei keinem Vor-
gang fehlt, aber selten alles erklärt), sondern das nationale Schicksal,
das sich aus der Kreuzung, Durchdringung, Verflechtung zahlreicher
historischer Einzelzüge als Gemeinsames, Konstantes heraushebt.
Ich darf hier ein paar Sätze zitieren aus dem Berlin-Buch, das ich vor
3 Jahren zusammen mit Sasha Stone machte (Berlin in Bildern, Verlag
Dr. Epstein, Wien):

„Zwischen Paris und Moskau liegt Berlin. Es liegt östlich der Elbe. Die
Güter des Südens und Westens nimmt es durch das Leipziger (Ger-
traudten-) Tor in sich auf und leitet sie durch drei Tore nach Norden und
Osten weiter, es vermittelt zwischen Ost und West. Sein Sinn ist Brücke
zu sein, und von Anfang an ist es zweihaft, hat es zwei Pfeiler, ein Hüben
und Drüben, ein Oestlich und Westlich der Spree."

Die Fürsten setzen in die Handelsstadt ein Centrum der Politik. Des
Großen Kurfürsten Straße zielt nach Westen, schließt das Berliner Schloß
an das System Paris an ... . das Schloß, aber nicht die Stadt. An der
Spree bricht diese Achse ab. Der Weg nach Osten erhält einen ähn-
lichen Ausbau nicht, hat ihn nicht bis auf den heutigen Tag. Und Berlins
so notwendige, so natürliche Versuche, dem alten Handelsweg von
Osten von der Königstraße her einen Durchbruch nach Westen zu schaf-
fen, dem Verkehr, der in neuen Dimensionen und mit neuem Tempo
hier strömt, einen neuen breiten „Mühlendamm", alter Bestimmung dieser
Stadt getreu, zu schaffen, stoßen mit der merkwürdigen Logik aller Stadt-
pläne auf keinen anderen Widerstand, als auf den der „Wilhelmstraße".
Das Schloß ist heute bedeutungslos, da es seiner Politik nicht gelang,
den Bund zwischen Ost und West auf die Dauer zu verstellen.
Mündet diese Betrachtung in eine Straßendurchbruchs-Forderung aus?
Keineswegs in eine Forderung der gewohnten Art und mit der gewohn-
ten Begründung. Bloße Verkehrsforderungen möchte ich nicht über-
werten. Aber es beschäftigt mich eine Frage:

wenn wie niemand bestreitet, Städtebau Ausdruck und Niederschlag
des politischen Denkens eines Volkes (im weitesten Sinne) ist, kann er
dann nicht auch rückwirken auf dieses Denken?

Täglich, stündlich wird in dieser Stadt über das Schicksal des deutschen
Volkes politisch entschieden. Täglich, stündlich, minütlich flutet ein un-
geheurer Verkehr durch die Hauptbahnen seiner City. Ist es zu pathe-
tisch ausgedrückt, wenn ich sage, daß der Charakter dieses Blutkreis-
laufes an der centralsten Stelle der Stadt schließlich zu einer Art Denk-
Tradition werden muß? Kann es dauernd ohne Einfluß bleiben, wenn an
der Stelle, wo Westen und Osten dieser Stadt zusammentreffen müssen,
die Bahn auf beiden Seiten ... 100 m vor dem Ziele ... sinnlos abbricht,
wenn ein Wenden, Umfahren, Drehen, ein Karussellfahren einsetzt, dort,
wo die offenste klarste Zusammenfassung am allernotwendigsten wäre;
wenn 100 m vor dem sichtbaren Ziele — schon vom Tor her ist der
Rathaus-Turm zu sehen — ein neues und ganz bedeutungsloses,
ephemeres Ziel die richtige Bahn ablenkt, und das Notwendige zu Um-
wegen und Schleifen zwingt.

Was im Denken und Fühlen von ungezählten Wagenlenkern und Passa-
gieren tagaus, tagein durch lange Generationen wachgerufen wird: Ver-
zicht auf Konsequenz, Fortsetzung des Weges nur um zwei Ecken herum
— sollte das nicht schließlich zu einer Zwangsbahn auch im politischen
Denken werden? Kerr verglich kürzlich die Staatslenker mit Chauffeuren.
Aber was hilft der beste Führerschein, wenn die Straße versagt?!

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