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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Wolff, Georg: Berlins Bevölkerungsentwicklung in der Nachkriegszeit
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Gantner, Joseph: Stadtlandschaft Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0080

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Nachkriegsjahren ist lediglich durch Zuwanderung von außerhalb erfolgt.
Dadurch haben sich die erwerbstätigen Jahrgänge in Berlin besonders
angehäuft und werden in einer Zeit, wie der gegenwärtigen Wirtschafts-
krise, naturgemäß auch die Zahl der Erwerbslosen und aus öffentlichen
Mitteln Unterstützten besonders in die Höhe treiben. Noch eine ganze
Reihe von Problemen, die den Arbeitsmarkt ebenso betreffen wie das
Verkehrs-, das Siedlungs- und Gesundheitswesen, hängt mit dieser ge-
waltsamen Bevölkerungszunahme zusammen; denn für fast eine halbe
Million Menschen lassen sich auch in normalen Zeiten nicht so schnell
Arbeitsstätten und Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser und zu alle-
dem ausreichende Verkehrseinrichtungen aus öffentlichen Mitteln bereit-
stellen. Auch manches vorschnelle Wort, das in Politik und Presse fällt,
erklärt sich oder würde sich vielleicht etwas gemildert darstellen, wenn
bei ihren Urhebern eine größere Kenntnis der Bevölkerungsvorgänge
damit einherginge.

Eine Erscheinung, die das Interesse der Bevölkerungsentwicklung und
Bevölkerungshygiene besonders hat, mag noch hervorgehoben werden.
Im letzten Jahr (1931) hatte Berlin schon einen Sterbeüberschuß von
10 596, in der hier betrachteten Gesamtzeit (seit der Bildung von Groß-
Berlin) sogar einen solchen von 54 519 Menschen; d. h. innerhalb der
letzten 11 Jahre starben in Berlin 54 519 Menschen mehr als in seinen
weiten Stadtgrenzen geboren wurden! Eine beträchtliche Zahl, etwa die
Einwohnerschaft einer Mittelstadt wie Bamberg oder Cottbus. Das ist
das Problem der modernen Großstadt überhaupt (nicht nur Berlins). Ein
Blick in das jüngste Statistische Jahrbuch deutscher Städte kann leicht
davon überzeugen, daß im Jahre 1931 schon eine ganze Reihe anderer
Städte einen Ueberschuß der Sterbefälle über die Geburten hatte, auf
das Tausend der Einwohnerschaft umgerechnet, nicht immer kleiner als
in Berlin. In vielen anderen ist noch ein Ueberschuß vorhanden, aber er
schrumpft zusehends von Jahr zu Jahr. Daraus daß immer weniger Kinder
geboren werden, muß notwendigerweise eine zunehmende Ueber-
alterung der Stadtbevölkerung folgen (die Verlängerung de'
Lebensdauer, auf Rückgang der Sterblichkeit beruhend, wirkt noch in
gleicher Richtung). Daraus aber muß notwendigerweise wieder folgen,
daß Alterskrankheiten wie Krebs, Schlaganfall, Herzerkrankungen von
Jahr zu Jahr zunehmen, während die Krankheiten des Kindesalters,
darunter akute wie Diphtherie, Scharlach, Masern, Keuchhusten zu-
rückgehen. So ergeben sich eine Reihe der wichtigsten Fragen der
Menschen- und Warenökonomie aus der Betrachtung der Bevölkerungs-
entwicklung allein, Fragen, die an Werden und Vergehen der Kultur-
völker anknüpfen und hier nur angedeutet werden konnten.
Dr. Georg Wolff,

Abteilungsdirektor am Hauptgesundheitsamt der Stadt Berlin.

Von Dr. Wolff erscheint soeben eine Untersuchung über „Die Nachwirkung der
Kriegshungerperiode auf das Schulkinderwachstum" in der Reihe der „kommunal-
ärztlichen Abhandlungen" im Verlage Leopold Voss, Leipzig.

Stadtlandschaft Berlin

Kurz nacheinander haben sich zwei der kompetentesten Beurteiler über
das seltsame städtebauliche Phänomen ausgesprochen, das die Stadt
Berlin heute bietet: Werner Hegemann und Karl Scheffler,
beide durch langjährigen Aufenthalt zu einem solchen Urteil gleicher-
weise legitimiert •). Die zwei Bücher lagen schon seit geraumer Zeit auf
dem Redaktionstisch des „Neuen Frankfurt" — nun seien sie im Zusam-
menhang dieses Berliner Sonderheftes den Lesern der „neuen Stadt" mit
allem Nachdruck zur Lektüre empfohlen, denn sie betrachten und
schildern Berlin von zwei ganz verschiedenen Seiten her, und der bloße

Vergleich dieser Standpunkte schon ist reizvoll und bezeichnend zugleich
für das Objekt, dem er gilt.

Hegemann hat sich in diesem großen, spannend zu lesenden Buche
seinen ganzen und wie es scheint unerschöpflichen Groll gegen die
Fürsten des Hauses Hohenzollern, besonders Friedrich den Großen, noch
einmal von der Seele geschrieben. Es ist fast alles faul, was sie tun, und
der Egoismus, mit welchem sie beim Bau der Residenzstadt Berlin zu
Werke gehen, kennt keine Grenzen. Vor allem schildert Hegemann die
einzelnen wirtschaftlichen Maßnahmen, die „Städteordnungen" und Bau-
gesetze, mit deren Hilfe die „größte Mietskasernenstadt der Welt"
entstehen konnte, sowie die Finanzskandale und Korruptionen, welche
diesen gigantischen Wachstumsprozeß begleitet haben. Entgegen aller
patriotischen Legende kritisiert er z. B. scharf die Stein'sche Städteord-
nung von 1808, die das Gebiet der Stadt willkürlich hinter ihr mittelalter-
liches Ausmaß beschränkte, dem Stadtbürger starke Privilegien verlieh
und so zu einer katastrophalen Zusammendrängung der Bevölkerung
führte.

Man legt Hegemanns Buch, das eigentlich mehr eine Folge temperament-
voller Aufsätze als ein Buch ist, aus der Hand mit einem etwas bitteren
Gefühl. Ist denn alles auf diesem Boden von den Verantwortlichen mit
obstinater Bosheit falsch angefaßt worden? Waren denn gar keine andern
Kräfte am Werk?

Auf solche Fragen gibt Scheffler wenigstens eine Antwort, indem
er in seinem Buche Berlin gewissermaßen als eine Pflanze, ein Lebewesen
betrachtet, das in seinem Wachstum gewissen, etwas absonderlichen
Gesetzen unterworfen war, aber genügend eigene Kräfte entwickelt hat,
um die Krisen immer wieder zu überstehen. Scheffler, der sich in seinen
zahlreichen Büchern gerne mit Städten und Städtebau beschäftigt»»),
glaubt zu sehr an den organischen Ablauf alles Lebens, als daß
er den ungeordneten, tumultuösen Anblick Berlins nicht gewisser-
maßen ins Harmonische umdeuten würde: er konstatiert die genera-
tionenlange Arbeit eines bestimmten Menschenschlages, die schließlich
im Bau der eigenen Stadt wie in den freien Künsten wie im Leben und
der Gesellschaft selbst seinen eigenen Stil herausgebildet hat. Was
Hegemann mephistophelisch durchleuchtet und seziert, bis alle diese
bösen Kräfte und Hintergründe sichtbar werden, das nimmt Scheffler
begütigend unter den Schutz seiner alles verstehenden und erklärenden
väterlichen Obhut. Dieser Band Berlin, der auch ausführlich über die
Museen, die Umgebung der Stadt, die Lebensart ihrer Bewohner spricht,
ist ein sehr würdiges Gegenstück zu der bekannten Monografie über
Paris.

Es verhält sich schon so, daß dem Gebilde der heutigen Stadt Berlin
mit den normalen städtebaulichen Begriffen und Vorstellungen nicht mehr
beizukommen ist. Paris, selbst das weitgedehnte London, sie haben eine
durch alle Ausdehnungen noch durchschimmernde Stadt form, die z. T.
heute noch die Arbeit des Städtebauers in ihnen bestimmen kann.
Berlin aber war vielleicht nie, ist jedenfalls heute keine Stadtform in
diesem Sinne mehr. Man hat schon den Begriff „Stadtlandschaft" geprägt,
um dem Gebilde einen adäquaten Namen zu geben, und tatsächlich
müßte man, weit über Hegemanns und Schettlers Beschreibungen hinaus,
diese mit nichts vergleichbare Tendenz zur Uferlosigkeit aus dem
Schicksal Berlins herausarbeiten, um den eigentlichen Charakter der
Stadt zu bezeichnen. Uferlosigkeit nicht in dem Sinne der Bevölkerungs-

• Werner Hegemann, Das Steinerne Berlin, Geschichte der größten Miets-
kasernenstadt der Welt. Verlag von Gustav Kiepenheuer, Berlin. 1930.

• Karl Scheffler, Berlin. Wandlungen einer Stadt. Verlag Bruno Cassirer,
Berlin 1931.

• • Ueber sein jüngstes Werk, „Der Neue Mensch" mit einem Essay über die Zukunft
der Großstädte, wird Gotthard Jedlicka im nächsten Heft berichten.

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