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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Chronik der Länder
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0137

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4. Wohnungstypen

Aus den Gründen, die bereits zu Anfang dargelegt wurden, kann von
einem aus der vorrevolutionären Zeit überlieferten Typ der russischen
Arbeiterwohnung kaum die Rede sein. Eine gewisse Tradition besitzt
einzig das kleine erdgeschossige Einfamilienhaus, meist in der Form des
Doppelhauses, das heute noch vor allem in der Ukraine gebaut wird,
wo der Arbeiter nebenbei etwas Viehzucht und Landbau betreibt. Das
als Typ „Cottage" bezeichnete, zweistöckige Einfamilienhaus, welches
nach dem englischen Vorbild die westlichen Arbeitersiedlungen be-
herrscht, wurde und wird in Rußland kaum gebaut.

Wenn man von einer für die zaristische Zeit typischen Form der Arbeiter-
wohnung sprechen darf, so trifft dies höchstens für die in den Textil-
arbeiterbezirken übliche „Arbeiterkaserne" zu. An sie knüpft eine im
heutigen Rußland sehr verbreitete Form des Einzimmerhauses mit mitt-
lerem Korridor, das „Obstscheshitie" (= Gemeinschaftswohnhaus) an,
meist von Junggesellen, aber auch von Familien bewohnt und in verbes-
serter Form mit gemeinsamem Speisesaal und „Roter Ecke" versehen. Auf
der verbesserten Arbeiterkaserne fußten auch die Korridorwohnungen
der Stadt Moskau mit Ein- und Zweizimmerwohnungen an einem Mittel-
gang, mit Küchen und Aborten für je zwei Familien. In seiner kulturellsten
Form würde dieser Typ der amerikanischen Appartmentwohnung ent-
sprechen. In der primitiven russischen Form konnte er keine große Be-
liebtheit erlangen und wurde bald aufgegeben.

Heute werden Wohntypen zu zwei bis drei abgeschlossenen Wohnungen
auf ein Treppenhaus in vier- bis fünfgeschossiger Bauweise bevorzugt.
Die meisten neueren städtischen Wohnungen werden mit Zentralheizung
ausgestattet. Die Grundrißformen entsprechen der durchschnittlichen,
mitteleuropäischen kleinen Mietwohnung. Auffällig ist die Bevorzugung
der Wohnung zu drei und vier Zimmern gegenüber der im Westen als
Arbeiterwohnung bevorzugten Zweizimmerwohnung. Dies ist eine in-
direkte Folge der Wohnungsnot und der Knappheit an Installations-
material, die dazu zwangen, mehrere Familien in einer solchen, normaler-
weise zu großen Wohnung unterzubringen. Erst in letzter Zeit beginnt
sich die Form der normalen Kleinwohnung bis zu 35 Quadratmeter Wohn-
fläche durchzusetzen.

Ist die individuelle Familienwohnung und vor allem die individuelle
Hauswirtschaft vereinbar mit einer sozialistischen Wirtschaft? Von dem
Moment an, wo die Familie aufhörte, wie beim Bauernhof, eine eigent-
liche Produktionseinheit zu sein, hat die individuelle Hauswirtschaft ihren
Sinn verloren. Das beweisen eine Reihe von Erscheinungen, die überall
die Industrialisierung begleiten, die Verkleinerung der Familie, das
Hereinziehen der Frau in die Produktion, das Selbständigwerden der
heranwachsenden Kinder, und nicht zuletzt die Entwicklung der kom-
munalen Versorgung, die bereits ein Stück Vergesellschaftung be-
deutet. Selbst der Kapitalismus, der im Prinzip mit der kleinbürgerlichen
Auffassung der Wohnungsfrage verbunden scheint, hat bereits im Appart-
menthaus und im Einküchenhaus neue Formen entwickelt, die die indi-
viduelle Hauswirtschaft aufheben.

In der Sowjetunion hat die Frage der sozialistischen Wohnform in den
letzten Dahren zu sehr heftigen Diskussionen geführt. Die radikalste These
verlangte nicht nur eine vollkommene Auflösung der Einzelwirtschaft,
sondern der Familie überhaupt. Man forderte große Wohnkombinate von
600 bis 3000 Menschen, wo jeder erwachsene Bewohner ein einzelnes
Zimmer, gerade groß genug für Schlaf und gelegentliche Erholung, er-
hält, während alle übrigen Elemente der Wohnung gemeinsam sein
sollen, gemeinsame Großküche mit Speisesaal, gemeinsame Bibliothek,
Studienräume, Sportsäle usw. Die Kinder sollten je nach ihrem Alter in
Krippen, Kindergärten und Schulinternaten gemeinsam untergebracht und
gemeinsam erzogen werden.

Aus diesen Diskussionen, die besonders stark von der Arbeiterjugend,
den Komsomolzen und Studenten unterstützt wurden, gingen zahlreiche
Projekte hervor. Sie fanden ihren Niederschlag in zwei konkreten Formen,
der Hauskommune und d em Kommunehaus. Als Hauskommune schlössen
sich eine Anzahl Arbeiter und Arbeiterfamilien zusammen, führten ge-
meinsame Küche, richteten spezielle Räume für die Kinder ein und
führten vor allem eine restlose Vergesellschaftung ihres Verdienstes
durch. Das Kommunehaus schuf hierfür die geeignete bauliche Form,
ohne daß die Vergesellschaftung des Verdienstes durchgeführt zu wer-
den brauchte. Ein solches Kommunehaus für 800 Personen mit Speisesaal,
Klubräumen, Krippe und Kindergarten wurde im Jahre 1930 in Moskau
auf genossenschaftlicher Grundlage errichtet. Aehnliche Kommunehäuser
erstanden an anderen Orten und werden in den neuen sozialistischen
Städten gebaut.

Der rasche Sieg einer sozialistischen Wohnform, wie ihn ihre Befürworter
erwartet hatten, ist allerdings nicht eingetreten. Daß dies nicht ge-
schehen konnte, daß selbst die Partei gegen eine Ueberspannung des
Kommunehausgedankens, vor allem gegen eine überstürzte und gewalt-
same Einführung auftreten mußte, das hat seine guten Gründe, welche
von den Gegnern der Sowjetunion als Rückkehr zum Kapitalismus, zu
den Idealen des Bürgertums ausgelegt werden, während sie in Wirklich-
keit nur die reale Situation des gegenwärtigen kulturellen Aufbaus in
der Union ausdrücken.

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