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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Schmidt, Hans: Diskussion um Rußland: der Sowjetpalast
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0174

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Diskussion um Rußland

Der Sowjetpalast

An den Internationalen Kongreß für neues Bauen.
Generalsekretariat.

In Nr. 2 der Zeitschrift „die neue Stadt" ist unter dem Titel „Mitteilungen
der Internationalen Kongresse für Neues Bauen" ein Bericht über die
Beschlüsse der Delegiertenversammlung in Barcelona abgedruckt.

Der Bericht befaßt sich unter anderem mit der Stellungnahme der Ver-
sammlung zum Entscheid des Wettbewerbes für den Sowjetpalast in
Moskau. Nach dem Wortlaut des Berichtes wurde unter dem Eindruck
dieses Entscheides die Frage aufgeworfen, ob „der Kongreß es verant-
worten könne, die russische Einladung anzunehmen".
Wir sind nicht der Meinung, daß aus der Enttäuschung über den Ausgang
des Wettbewerbes die Konsequenz auch nur erwogen werden könnte,
den Moskauer Kongreß abzusagen. Eine solche Konsequenz würde dem
Kongreß, der von der Moskauer Tagung mit Recht eine wertvolle Be-
reicherung seiner Mitglieder erwartet und ebenso wertvolle Anregungen
für die Sowjetöffentlichkeit verspricht, nur Schaden bringen. Sie wäre
auch im vorliegenden Falle ganz gegen die bisherige Uebung des Kon-
gresses, der seine Tätigkeit jeweils an den Punkten eingesetzt hat, wo
dieses am notwendigsten erschien.

Angesichts dieser Selbstverständlichkeiten müssen wir in der Form, in
der dieser Diskussionspunkt in einer Internationalen Zeitschrift zum Ab-
druck gebracht wurde, eine Brüskierung der einladenden Organisationen
und dadurch der Sowjetöffentlichkeit erblicken. Wir bitten Sie, zur
Kenntnis zu nehmen, daß wir einen solchen Versuch, auch im eigensten
Interesse der Aufgaben, die sich der Kongreß bisher gestellt hat, aufs
Entschiedenste bedauern und verurteilen.
Moskau, 10. 7. 32.

Eggerstedt, Löcher, Walter Kratz, Werner Hebebrand, Walter
Schwagenscheidt, Alfred Mensebach, Bert Nienhuis, Jan Ver-
meulen, Tolziner, Weiner, Hannes Meyer, Rene Mensch,

E. Kletschoff, Julius Neumann, Fred Forbat, Neufeld, Schütte-
Lihotzky, Schütte, Burkart, Ahrends, Graßhoff, Schmidt, Bücking,

F. Neumann, May, Niegemann.

Zu diesem Schreiben bemerkt der Internationale Kongreß für Neues
Bauen:

Anläßlich der Delegiertenversammlung (Cirpac) der Internationalen Kon-
gresse für Neues Bauen, die vom 29. bis 31. März dieses Jahres in
Barcelona stattfand, lag von Seiten verschiedener Gruppen der Antrag
vor, daß der Kongreß zu dem Entscheid der Konkurrenz des Sowjet-
palastes Stellung nehme.

Es war den Gruppen unverständlich, daß Projekte, die zum Teil als Nach-
ahmung akademischer oder pseudomoderner Architektur bezeichnet
werden müssen, als Krönung des Fünfjahresplanes in Betracht kämen.
Besonders unsere nordamerikanischen Mitglieder konnten es nicht be-
greifen, daß ein Vertreter pseudomoderner Architektur-Symbolik in erster
Linie für die Ausführung des Sowjetpalastes herangezogen würde.
Darum beschloß die Delegiertenversammlung, gegen den Entscheid des
Wettbewerbes energisch Stellung zu nehmen und die zuständigen Be-
hörden Sowjetrußlands auf die begangenen Irrtümer aufmerksam zu
machen. Der Cirpac wendete sich deshalb direkt an die oberste Instanz,
um auf direktem Wege die Rückziehung eines unglücklichen Urteils des
Preisgerichtes zu erreichen.

Wir bedauern, daß durch eine isolierte Wiedergabe einzelner Erwägun-
gen in irgend einer Form eine Brüskierung der Sowjetöffentlichkeit
erblickt werden konnte — nichts lag uns ferner.

Der Beweggrund unseres Handelns war, den Palast der Sowjets seinem

Sinn entsprechend ausgeführt zu sehen, und wir möchten hoffen, daß

unser augenblickliches Mißverständnis in weiterem Sinn dazu führen

möge, dieses Ziel zu erreichen.

Für die Internationalen Kongresse für Neues Bauen:

C. van Eesteren (Amsterdam), v. Bourgeois (Brüssel). S. Giedion (Zürich).

1. August 1932.

Die Sowjetunion und das neue Bauen

Der Ausgang des Wettbewerbes für den Sowjetpalast hat die radikalen
Architekten des Westens in Entrüstung versetzt. Wir haben keinen An-
laß, ihre Entrüstung zu beschwichtigen, um so mehr, als wir ihnen gleich
sagen müssen, daß es sich bei diesem Entscheid nicht um eine zufällige
Einzelerscheinung handelt und daß das Resultat eines seither veranstal-
teten engeren Wettbewerbes unter zehn sowjetrussischen Architekten
dasselbe B-ild ergeben wird. Aber wir sind verpflichtet, unseren im
Westen arbeitenden Kollegen ein objektiveres Bild von der Situation
des neuen Bauens in der Sowjetunion zu geben, als sie es aus solchen
Blitzlichtern gewinnen können. Objektiv sein bedeutet in unserem Falle
den Versuch, das neue Bauen nicht einfach als eine fertige Erscheinung,
sondern als einen Prozeß anzusehen, als einen Prozeß, der mit allen
sozialen, politischen und technischen Erscheinungen eines Kulturganzen
aufs engste verbunden ist.

Versuchen wir den Prozeß zunächst ganz kurz für den Westen zu ver-
folgen. Die heutige Situation des neuen Bauens im Westen ist ent-
standen aus einer langen Reihe von Kämpfen, von vielfach ver-
schlungenen, einander beeinflussenden und oft auch scheinbar gegen-
einander laufenden Bewegungen wie die Art-and-craft-Bewegung Eng-
lands, die holländischen Rationalisten (Berlage), die Jugendstilbewegung,
die „Um-1800"-Bewegung. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts, das nach
der französischen Revolution zunächst die feudalistische Stilarchitektur
übernommen hatte, suchte auf diesem Wege seine eigenen Kulturformen
auch auf dem Gebiete der Architektur zu finden. Bezeichnenderweise
liefen alle diese Versuche zunächst darauf hinaus, innerhalb der Welt
des Hochkapitalismus eine Entspannung zu suchen. Daher die Wieder-
belebung des Handwerks, die Verneinung der Großstadt, die Herein-
ziehung sozialer Ideen, wie Arbeitergartenstädte usw. unter dem Ein-
druck der technischen Entwicklung der letzten Phase des Kapitalismus,
im Zeichen der Rationalisierung und Standardisierung entstand schließ-
lich das eigentliche Programm des neuen Bauens, das eine absolute Ein-
heit von Kunstform und technischer Form fordert und sich ohne Romantik
auf den Boden der entwickelten kapitalistischen Technik stellt. Auch
diesmal spielen soziale Ideen herein, vor allem die Vorstellung, die
heutige, kapitalistisch geführte Technik sei an sich imstande, den Wohl-
stand für alle zu produzieren, die Einsicht, daß das nicht der Fall ist, hat
schon dazu geführt, daß ein linker Flügel des neuen Bauens sich dem
Sozialismus zugewendet hat.

Wie steht es mit der Sowjetunion? Man muß sofort feststellen, daß das
zaristische Vorkriegsrußland an allen den Bewegungen, die dem neuen

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