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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Arbeit der Städte
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0215
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Diskussionen

Neue Stadt?

Offener Brief an den Herausgeber

Sehr geehrter Herr Dr. Gantner!

In Nr. 1 Ihrer „neuen Stadt" sprechen Sie selber so erfreulich entschieden
von Ende und Wende, und von Stadtbaurat Wagner lassen Sie mit
förmlich brutaler Rücksichtslosigkeit die ganze dekorative Planerei
unserer Pseudostädtebauer umlegen. Lassen ihn beispielsweise über die
„Wanderungen der Arbeitsplätze" als bisher übersehene Kernelemente
der Städtebildung dozieren (und darüber, daß wir davon nichts wissen)
—und dann bringen Sie mit einemmal, als ob seit dem Städtebaugesetz
von anno tobak nichts passiert wäre, das Programm des 4. Inter-
nationalen Kongresses für neues Bauen in Moskau.
Bringen es kritiklos! Holen diese Kritik auch nicht nach. Sie identifi-
zieren sich also weitgehend mit diesem städtebaulichen Programm, das
in unseren Tagen Anspruch auf allgemeine Geltung macht. Ein Pro-
gramm, Herr Redakteur, das, wie Sie nachträglich feststellen können,
nicht nur in dem geschraubten Titel „Die funktionelle Stadt", sondern vor
allen Dingen im wesentlichen Inhalt eine glatte Wiederkäuung
jener Irrtümer und Oberflächlichkeiten unseres
vergangenen „Städtebaues der neuen Sachlich-
keit" enthält, die Sie und Ihre prominenten Mitarbeiter jetzt so arg
geißeln.

In dieser Proklamierung gibt es noch immer ein vorgefaßtes (Größen-)
Verhältnis von Stadt und Land. Da gibt es noch die ideale Lage von
Wohn-, Arbeits- und Erholungsgebieten und jenen ebenso bedeutsamen
wie unwirtschaftlichen Verkehr, der alles dieses so glücklich verbindet.
Und immer noch gibt es hier die beliebten „Wohnviertel", die ihre zu-
gehörigen Läden, Schulen und Gräten suchen und die, wenn sie sie end-
lich (auf dem Papier) gefunden haben, entschlossen sich zu einer größeren
städtebaulichen Einheit zusammenfinden. Bis daß sie fernab am Ende
des lückenlosen Programms mit unheimlicher Logik auf die ihrerseits
ebenso erfreute Landesplanung stoßen: Grüßgott, funktioneller Städte-
bau! Mensch, Wirtschaft, Politik und sonst entscheidende Kräfte des
Lebens werden einstweilen gar nicht oder als willig vorausgesetzt und
utopischen Vorstellungen widerstandslos zugebogen. Wir aber fragen:
Sind das die städtebaulichen Tatsachen der neuen menschlichen An-
häufung, die hinter dem von Ihnen, Herr Dr- Gantner, proklamierten
„Ende" die neue Aera einleiten? —

Und diesen Städtebau wagt man ausgerechnet jenen Russen vor die
Nase zu setzen, die diese Tagung zwar, wie andere Tagungen auch,
„begrüßen", — die sich in ihrer städtebaulichen Praxis aber er-
wiesenermaßen einen Dreck um die illusionären Zielsetzungen des inter-
nationale Städtebaues kümmern, von dem sie so gut wie wir jetzt wissen,
daß er selbst nie Städte gebaut hat, dieselben Russen, die ihre neuen
Städte kühl und sachlich nach den Gesetzen ihrer eigenen Wirtschaft
und gemäß ihren eigenen sozialpolitischen Vorstellung bauen. Un-
sere Sendlinge, die mit den Ambitionen eines städtebauenden Tsingis
Khan nach drüben gingen, haben ja den Unterschied erfahren, der
zwischen unserem doktrinären, abstrakten und artistischen „Städtebau"
und dem I e b e n d i g e n , d. h. größtenteils aktuellen, gelegentlich plan-
widrigen, ja hier und da tumultuarischen Werden und Wachsen
von Siedlungen wirtschaftlicher Prägung und städtischen Ausmaßes be-
steht.

Es kann (als Maßstab) interessant sein, aber — meinen Sie nicht auch,
Herr Redakteur? — es geht uns Mitteleuropäern im Grunde nichts an,
wie sich der östliche Nachbar 1. zum theoretischen, 2. zum praktischen

Bauen unserer Städte verhält. Unser eigenes Leben um - und
aufzubauen, das ist die Aufgabe, vor der wir heute stehen! Wenn
nun Wagner als Theoretiker und Moskau als Praktiker gleichermaßen
die Wirtschaft als erstes Element einer solchen Bauaufgabe be-
zeichnen, so soll uns das nur recht sein. Es erübrigt sich dann äußersten-
falls, die besonderen Bedingungen unserer Wirtschaft etwa gegenüber
der russischen festzustellen.

Dann aber ran an das andere große Element der Lebensgestaltung in
den Städten: den Menschen! Wenn der russische Städtebauer von
seinem industriellen Neu- und Notbau her und ungehindert von geistiger
Differenzierung seines Menschenmaterials dieses kollektiv ver-
wendet — gut. Er hat seine unausweichlichen Gründe dafür.
Wir aber haben solche nicht minder für den Städtebau des technisch-
wirtschaftlich bereits eingerichteten, geistig vielfältigen und indivi-
duell selbständigen Europäers. Erst müssen wir wissen, für wen,
für welche Art und Weise der Menschen zu leben wir unsere Städte
bauen oder umbauen sollen. Dann erst können wir etwas von ihren
Funktionen ahnen.

Adolf Loos war der erste Baumeister, der sich das Studium des Be-
wohners einer Stadt zur Aufgabe stellte. Infolgedessen hat er damit
mehr organischen Städtebau vorbereitet als die schematischen Ver-
arbeiter von Wohnbaumilliarden, die damit nur neue schmarotzende
Stadtteile auf lebensunfähige Kerne zu pfropfen wußten. Loos ist von
den Privilegierten des modernen Städtebaues gründlich verkannt, wenn
nicht bewußt geschnitten worden.»

Wenn Sie, Herr Redakteur, mit mir zwischen diesem einseitigen Ver-
künder des menschlichen Städtebauelementes, Loos, und dem ebenso
einseitigen Kritiker des wirtschaftlichen Grundmotives der Siedlung,
Wagner, nach einem Namen suchen, der eine Art Dominante zwischen
diesen städtebaulichen Antipoden herzustellen geeignet wäre, so nenne
ich Ihnen etwa: Ernst Fuhrmann, der die speziellen Bedürfnisse
des materiellen und geistigen Lebens des Einzelnen und die gemein-
samen des Zusammenwirkens Aller unter biologische Gesetze
sammelt. Fuhrmann könnte, mit anderen für die organische Gestaltung
der alten und neuen menschlichen Massensiedlungen, genannt Städte-
bau, noch viel zu sagen haben. —■

Aber wie Sie, verehrter Herr Dr. Gantner, hierüber auch denken mögen,
wir, Leser und Mitarbeiter der „neuen Stadt", wünschen nicht wider-
holt vorgeführt zu sehen, wie die Argumentation des alten Städtebaues
nicht zum Bauen von Städten führte, sondern wir künftigen Bewohner
der neuen Stadt wollen unmißverständlich leitende Wege
zu ihr gezeigt haben. Bahn frei: Was in unseren alten Städten (natür-
lich oder unnatürlich) gestorben ist, soll endlich und anerkannt tot sein,
und was zum Leben drängt, das soll grenzenlos leben!

Ihr Leberecht Migge, Architekt für Gartenbau.

• (Ihre im übrigen verdienstvolle Loos-Ausstellung, Herr Dr. Gantner, zeigt natur-
gemäß wohl den guten Haus-Architekten, nicht aber den ungleich bedeutenderen
Architekten einer neuen Lebensform Adolf Loos.)

Sehr geehrter Herr Migge!

Vorerst eine kleine Berichtigung: die Loos-Ausstellung, die ich ver-
anstaltet habe, und die noch jetzt in verschiedenen Städten wandert,
ist von Loos selbst (unter Mithilfe seines Schülers Kulka) zu-
sammengestellt worden. Ich konnte es also ruhig ihm überlassen, das
zu zeigen, was er von seiner Arbeit für besonders wichtig hält.
Zur Hauptsache aber kurz folgendes: Ich habe weder die Ehre noch den
Auftrag, die Programme des Internationalen Kongresses für Neues Bauen
zu vertreten, dessen Arbeiten unserer Zeitschrift ihrer ganzen Haltung
nach sehr nahe steht, und an dessen Arbeitsweise ich nur bedaure, daß

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