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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Wagner, Martin: Die neue amerikanische These im Städtebau: eine Bilanz über die Entwicklung der amerikanischen Städte
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0230

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und daß weite, offene Zwischengebiete für den Aufbau der Zukunrts-
gemeinde zur Verfügung stehen. Wenn Demokratie wieder ihren Aus-
druck findet und das gegenwärtige System der Plutokratie, das sich nur
auf äußerliche Verehrung der Philantropie (Menschenliebe) stützt, ersetzt,
so müssen wir den Mut haben, zu den natürlichen Vorteilen der regio-
nalen Gemeindeentwicklung zurückzukehren, und zwar durchgreifend.
Dies ist nicht die Aufgabe von heute oder morgen, sondern eine Aufgabe,
wert einer starken Nation, die den Industrialismus unter den Mauern der
Großstadt hat wühlen sehen. Nicht der kommerzielle Klub oder der
Philantrop werden diese Aufgabe des regionalen Wiederaufbaues
unserer Zivilisation und Kultur unternehmen und vollenden. Eine Revolu-
tionierung des Volksgeistes, ein Verdrängen der Hoffnungslosigkeit der
gegenwartigen Ordnung von Seiten eines ehrenwerten Fuhrertums wird
den Weg aus dem unvermeidlichen Zusammenbruch unseres gegen-
wärtigen städtischen Lebens bereiten.

Stadtplanung darf nicht mehr etwas Unästhetisches sein, das Verwirrung
und Leerlauf hervorruft und einen kaum ertragbaren, zeitweise für einige
Wenige einträglichen Zustand. Sie muß in das Reich geistiger Entwick-
lung durch eine recht weit reichende, revolutionäre aufklärende Durch-
dringung der Geister geführt werden."

2. „Ende oder Spitze der Zivilisation?" („End or Peak of Civilization?"

von B. M a c k a y e.
»Geist möge von nun an Scharfsinn beherrschen."

„Ein Ausblick vom Empire State building: Zivilisation! Aeußerlich kann die
physische Zivilisation einem Spinnweben verglichen werden. Zurzeit
einem arg zerzausten Spinnweben! Es ist ein verknüpftes Netzwerk —
eine Wildnis von metallenen Fäden (Stahlschienen, Kupferdrähten, Routen
eiserner Dampfschiffe), um die Erde gespannt und hier und dort in kom-
pakte Knoten verwebt (Großstädte). Diese Fäden sind verschiedenartig
verknotet — mechanistisch, finanziell, rein menschlich. Warum sollten sie
nicht? Sie reichen um die Welt und werden von 100 000 Herren regiert.
Wenn sie zu sehr verwirrt sind, so erzeugen sie Krankheiten — Ver-
stopfung, Streike, Notzeiten.

Aber die äußerliche Zivilisation ist mehr als ein Wirrwarr. Denn die Fäden
sind hohl und dienen als Adern, durch die das Blut fließt — das flüssige
Lebenselement. Da ist der Fluß der Güter der Welt (Nahrung, Kleidung,
„Dinge"). Da ist der Fluß der Bevölkerung selbst: Hin und her über die
Landkarte und in Wanderung begriffen, neue Wohnplätze einzunehmen.
Das ist der Inhalt der Zivilisation als eines Flusses."
Wir steigen zum Monde auf und schauen zurück:

„Was für ein magerer Gegenstand wird Planet Erde — ein kleiner runder
Käse mit Ausschlag( der hier und dort in kleinen Buckeln schwärt, die wir
Amerika, Europa, China nennen. Der Ausschlag scheint zu steigen und zu
fallen in abwechselnden Krämpfen und Depressionen. Wir waren entfernt
genug, um eine getreue kosmische Uebersicht zu bekommen und be-
geben uns näher herbei, um die Oberfläche im Detail zu studieren.
Wir finden das Spinngewebe der erdlichen industrialistischen Zivilisation
wieder, ein Muster dünner Fäden — ein wahrhaftes Blutsystem — wo-
durch die Erdbewohner irgendwie ihr Leben erhalten. Jeder Faden oder
Strom ist ein notwendiger Artikel. Wir greifen drei von ihnen heraus
— Seide, Mehl, Nägel — Elemente in bezug Bekleidung, Nahrung, Auf-
bau. Wir folgen ihren Spuren um den Planeten:

In China beginnt ein Seidenstrom in einem Felde, passiert durch eine
Seidenfabrik in Shanghai, fließt in kleinen Tropfen, genannt Spulen, in ein
Schiff im Hafen, über den Pazific nach San Francisco und von dort in
kleinen Bächen zu den Hausfrauen von Amerika.

In Amerika beginnt, um die Seidenrechnung zu bezahlen, ein anderer
Strom. Dieser startet als Weizen auf einer North Dakota Farm, passiert

eine Mühle in Minneapolis, fließt als Mehl mittels Eisenbahn in den New-
Yorker Hafen, mittels Dampfer über den Atlantic nach Liverpool, von dort
in kleinen Bächen auf die Mittagstische Englands.

In England wird die Verbindung fortgesetzt. Zwei Ströme beginnen, einer
in Yorkshire als Eisenerz — der andere in Cornwall als Kohlenhaufen;
beide fließen mit der Eisenbahn und treffen sich in den Schmelzereien in
Birmingham, wo sie verkohlen und einen Strom von Roheisen abgeben.
Dieser geht durch eine benachbarte Mühle und ergießt sich als ein
Strom von Eisennägeln, und zwar auf dem Schienenwege nach Southamp-
ton, von dort mittels Dampfer über den Ocean in die Einfahrt von Hong-
kong, von dort in kleinen Bächen in die Eisenwarenläden Chinas.
So fließt das erde Blutsystem: Seide bezahlt für Mehl, dies bezahlt für
Eisen, dies bezahlt für Seide, ad infinitum. Eine staunenswerte Schöpfung!
Nicht wunderbarer ist der Lebensprozeß des menschlichen Körpers als
jener auf der Oberfläche des kosmischen Käses.

Wenn ein Lebenssystem sich im Prozeß des Sterbens befindet, warum
nicht ein anderes im Prozeß des Werdens? Wenn eine einfache kos-
mische Uebersicht ergibt, daß die Erdbewohner mit dem gegenwärtigen
Zustand Schluß machen müssen, dann liegt es in der natürlichen Ordnung
der Dinge, einen Ersatz zu ersinnen — von neuem zu starten und die
Verteilung der Güter nach einem neuen Muster, und zwar einem wirk-
sameren, vorzunehmen. Man leite die Ströme so, daß sie direkt fließen
und nicht in mannigfachen Verschlingungen. Man ordne die Herstellungs-
stätten längs der Ströme an, anstatt sie zu häufen. Man verkürze die
Ströme, um auch die Düsen zu reduzieren.

Nun wollen wir die Verheißung Henry Adams, die sich mehr mit dem
Bevölkerungsfluß, als mit dem der Waren und „Dinge" beschäftigt, vor-
nehmen. Werden die Menschen die Dinge kontrollieren — oder die
Dinge die Menschen niedertreten? Das hängt von der Gelegenheit ab.
Wenn ein Reservoir überfließt, so ist das Wasser und nicht der Mensch
momentan Herr. Wie mit dem Wasserüberfließen, so mit dem Waren-
überfließen. Wenn, wie Adams lehrt, die Macht der Warenerzeugung
wächst, so muß sie alles andere vor sich wegstoßen, und die Ware und
nicht der Mensch hat das Wegerecht. Jedoch wenn, wie er auch lehrt,
der Kurs der Warenmacht umbiegt — wenn er abnimmt —, dann wird der
Mensch und nicht die Ware den Tag kontrollieren. Die gegenwärtige
Depression ist in Wirklichkeit keine „Erschlaffung", sondern eine Anhäu-
fung in der Industrie.

Es hat drei Bevölkerungsflüsse oder Wanderungen in Amerika ge-
geben. Die erste war die „Auswärtsbewegung" nach 1776, als eine
Bevölkerung in Planwagen über den Kontinent zog. Darauf folgte nach
1830 die durch die Eisenbahn hervorgerufene Wanderung. Später ent-
wickelte sich, hauptsächlich nach 1880, die Bewegung aus den länd-
lichen Gegenden in die Fabrik und in den Wolkenkratzer — in die Stadt,
den Punkt, in dem sich das Leben weiter Gebiete sammelte.
Diese drei Volksbewegungen können dementsprechend bezeichnet
werden als: Hinausströmen, Umherfließen, Hineinströmen.
Amerika ist jetzt in der Mitte der vierten Wanderung, des Zu rück-
st r ö m e n s. Dies ist der Drang aus jeder City zurück in die Vororte und
darüber hinaus. Die Bevölkerung der typischen Großstadt fließt in die
Vorstädte und fließt weiter, indem sie sich ihre Landhaus-Bezirke längs
der Motorstraßen schafft. Dieser Zurückstrom bedeutet die „Großstadt-
invasion" Amerikas. Wir nennen es Invasion, denn es ist in Wirklichkeit
ein Eindringen — ein bösartiges Eindringen — in den eigensten amerika-
nischen Untergrund. Das Beschmutzende dieses Eindringens liegt nicht
an der Citybevölkerung selbst, sondern an der Großstadtumgebung, die
sie mit sich zieht.

Die Unkultur ist es, die aus der großen City in die Umgebung und
darüber hinaus abfließt. Die unreifen, melancholischen, vorstädtischen

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