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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0322

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noch in Erstaunen (!) setzen." So weit so gut! was Gretschucho aber an diesen
„Kompositionen" in Staunen versetzt hat, verrät er uns in sieben Postulaten am
Schluß seines Aufsatzes.

1. Lehnt er die „Stempellösungen der Moskauer deutschen Architektengruppe und
die der Ginsburggruppe ab".

Solche Stempellösungen existieren nun leider nicht. Was existiert, ist ein General-
bebauungsplan für Magnitogorsk von May und ein anderer von Schwagenscheidt
für Kusnezk. Das ist genau genommen nicht alles, aber das Wichtigste. Darin ver-
mißt der Verfasser offenbar die Points de vue, die „Kompositionen". Nach seiner
Meinung müssen Vegetationen, Wasser und Relief „vom Städtebauer bearbeitet
werden, wie die Dekoration vom Regisseur."

2. Standardisierung „nicht bis zur Bewußtlosigkeit". Standardisierung der Elemente,
in keinem Falle aber des Ganzen Skepsis bei den Normen, „weil sie
ungenügend nachgeprüft sind." — Das letztere ist leider der Fall, aber nur eine
Frage der Zeit. Soweit aber solche Skepsis prinzipieH gemeint ist, schlägt sie
jeder systematischen Arbeit ins Gesicht.

Dann folgt als billiges Rezept der Klassizismus.

4. „Keinen panischen Schrecken bekommen, daß man etwas dem guten Alten ähn-
liches (!) macht, wenn dies alte auch im Gebiet klassischer Lösungen liegt."

5. ,, . . . . die rein künstlerischen, dekorativen Verfahren nicht ignorieren

i. Der Architektur . . . . " die durch Jahrhunderte ihr verwandtgewordene Skulptur
wiedergeben."

Und damit wir es mit der Deutlichkeit der "ecole des beaux arts" erfahren:
7. „Nicht vor der klassischen Axe der Symmetrie Angst haben. Letzteres gilt beson-
ders für die Planung."

Solch finsteren Eklektizismus könnte man getrost sich selbst und seinen Nachbetern
überlassen, wenn er nicht heute in Rußland schon seine Prinzipien — wenn wir
obige Blütenlese noch als „Prinzipien" gelten lassen können — zu einem politischen
Postulat erheben würde.

Hans Schmidt hat in Nr. 5/6 „der neuen Stadt" diese viel ernster zu nehmenden
Einwände gegen das neue Bauen sehr richtig formuliert. Der wesentlichste unter
ihnen ist der dritte Einwand, der von den linken Utopisten unter den modernen
Architekten spricht (le Corbusier), die notwendige Etappen überspringen wollen.
Und hier liegt die Gefahr. Mit solchem Postulat der Einordnung des schaffenden
Architekten in eine Generallinie kann — wir sagen ausdrücklich: „kann" — jedes
kühne Hervorwagen an die Grenze der jeweils technischen Möglichkeiten als
„gegenrevolutionär" gekennzeichnet werden. Indessen bleibt es das Geheimnis
Jener Apologeten des Klassizismus, inwiefern eine durch Kultur verschönte und
symmetrie-betonte /Architektur sozialistischer sei als ein „Haus auf Stützen" von
le Corbusier.

In der Praxis führt nämlich ein ganz anderer Grund zur Abkehr von der „mono-
tonen" Form des funktionellen Bauens: die mangelnde Qualität der Ausführung.
Bauarbeiter, die noch vor wenigen Jahren nomadisierend durch die Steppe zogen
oder bestenfalls als Bauern im Dorf lebten, oft genug 75% Frauen, 20jährige Mädels
machen wirklich aus jeder Sachlichkeit eine Primitivität. Das wird ausdrücklich von rus-
sischen Fachgenossen gesagt. Und deshalb flüchtet man zu runden Treppenhäusern,
Bullaugen, Putzgesimsen und schließlich zur „verwandtgewordenen Skulptur" und
zur klassischen Symmetrie. Formsteigerung statt Qualitätssteigerung. Es soll sogar
konzidiert werden, daß die — für den Westen leere — Monumentalität der Skulptur

in Rußland wieder einen politischen Sinn erhält. Sicher aber nicht als Ornament
der Architektur.

Wenn die Russen wie im Politischen so auch im Künstlerischen den Versuch unterneh-
men, eigene Wege zu gehen, so entspräche das nur den Erwartungen, die die Welt
in sie setzt. Dunkel bleibt es aber, warum es zwar erlaubt sein soll, kulturelle Aus-
drucksform aus der Blütezeit der Bourgeoisie zu übernehmen, etwa klassizistische
Architektur, Musik der Romantik und Straußwalzer, nicht aber die neue Sachlichkeit
im Bau oder neue Tanzmusik. Was die Verwendbarkeit der im Westen entwickelten
Prinzipien der neuen Sachlichkeit anbetrifft, so haben allerdings die Russen Grund,
nicht kritiklos zu übernehmen. Was Gropius, May, Taut und andere entwickeln
konnten, war: der städtebauliche Ausdruck einer in wirtschaftlich und geistig selb-
ständige Individuen atomisiert'en bürgerlichen Gesellschaff. Ihre Stadtpläne sind die
Konsequenz des liberalen Bürgertums, als solche oppositionell dem konservativen
Bürgertum gegenüber, mit Ansätzen zu kommunaler oder genossenschaftlich-ge-
meinsamer Zentralisation verschiedener Lebensfunktionen. Was sie nicht fanden,
nicht finden konnten und folglich auch nach Rußland nicht mitbrachten, war ein
Planschema, kraft dessen die Massenbewegungen (etwa am 1. und 2. Mai, am 7.
und 8. November) politisch-erzieherisch ausgerichtet würden. Ihre „Gartenstädte",
„Trabantenstädte" und „Randstädte" sind nichts mehr — aber auch nicht weniger
als systematische Summationen von annähernd gleichen Wohnzellen unter günstigen
hygienischen und Belichtungsverhältnissen. Jedem Erwachsenen sein eigenes Zim-
mer mit einem Maximum an Licht und Ruhe — besser: in Ruhe gelassen sein —.
Das ist immerhin nicht wenig und wird auch im sowjetrussischen Städtebau seine
gute Verwendung finden. Es ist notwendig, aber nicht hinreichend. Die politisch
propagandistische Bedeutung des Stadtplans insbesondere von Plätzen und Platz-
bauten ist noch kaum erkannt. Ebenso die Zuordnung der Gemeinschaftsbauten,
wie Klubs, Ledigenheime, Kommunehäuser, Kindergärten, Speisehäuser zu jedem
Quartier nicht als Anhängsel, sondern als politisch vorbildlicher Mittelpunkt. Soweit
diese „Ergänzungsbauten" im Westen bekannt sind, bilden sie doch mehr die Vor-
wegnahme von Wohnformen auf sozial gänzlich veränderter Grundlage, während sie
in Rußland ■— zwar auch erst zirka 25 % aller Wohnbauten ausmachen — aber doch
als politische Vorbilder wirksam sind. Gerade der konsequenteste und heute noch
seltene Typ des Kommunehauses steht meist unter dem Protektorat eines großen
Betriebes, womit der öffentliche Charakter eines solchen Wohntyps deutlich gekenn-
zeichnet ist. Und schließlich muß in einem Land, wo die Arbeiter Herren der Be-
triebe sind, auch eine andere Relation zwischen Fabrik und Siedlung im Stadtplan
sichtbar werden. Auf alle diese Fragen ist jedenfalls von russischer Seite noch keine
Antwort gegeben, noch weniger von Seiten deutscher Architekten in Rußland. Hier
liegen Möglichkeiten für den sozialistischen Städtebau in der Richtung einer sinn-
vollen Erweiterung des im Westen entwickelten Zeilenbaues. Man darf aber gerade
deshalb von russischer Seite mehr verlangen als ein geschichtliches Plagiat.
Jedes bloße Ignorieren des westlichen Städtebaus bloß darum, weil er „den
Siedlungen ähnlich, die der Kapitalist für seine Arbeiter baut", ist doch gar zu
primitiv. Solche politische Arroganz bringt praktisch nicht weiter und überzeugt
niemand.

Solche Ansichten und Theorien sind heute im Umlauf, ohne daß deutlich würde, wie
weit sie von den oberen Sowjetbehörden oder theoretischen Kompetenzen gedeckt
bezw. angeregt werden. Diese offizielle Stellungnahme wird man auf dem „inter-
nationalen Kongreß" in Moskau erwarten dürfen. Es wird dann an Ueberraschungen
und Kritiken von beiden Seiten nicht mangeln. X. Y., Nowosibirsk.

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