Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Januar bis Juni)

DOI Kapitel:
No. 121 - No. 130 (24. Mai - 4. Juni)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43990#0505

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

Verkündigungsblatt «nd Anzeiger
Sonn- und Feiertagen.
Der Sonntagsnummer liegt ein Unter- ,, F" L F' L. Q
hattungsblatt, „Der Erzähler", mit dem 'M H"4 U Ms
Humor. Repräsentanten „Der deutsche 4 H -4- 4- 44 4 4^ 4- 4^ —44 -4 4 4^«
Michel" bei. > >-»>

Avonnem eutsprcis
für Heidelberg: monatl- 4V Pfg. mit
Trägcrlohn, durch die Post bezogen
Vierteljahr!.. Mk. 1.— ohne Zustcllgeb.
Lnsertionepreis: 10 Pf. für die 1-spalt-
Petitzeile od. deren Raum- Für locale
Geschäfts- u. Privatanzcigen 5 Pf.

Heidelberg, Mittwoch, 24. Mai

1893.

Expedition:
Hauptstraße SS.

Expedition:
Hauptstraße SS.

Der parlamentarische gute Ton.
Auch die politische Sitte hat ihre epidemischen
Anstürme zu bestehen. Es scheint, daß in unseren Tagen
eine verheerende Seuche gegen den guten Ton in parla-
mentarischen Lebcnstagen beschämende Fortschritte macht.
Daß der verflossene deutsche Reichstag in Bezug auf sein
geistiges und gesellschaftliches Niveau eine starke Senkung
erkennen ließ, wird man nicht bestreiten dürfen, und wer
die jüngsten Vorgänge im ungarischen nnd im böhmischen
Landtage schaudernd selbst erfahren hat, der wird an einer
internationalen Verbreitung der Entartung auf diesem Gc-
biete.nicht wohl mehr zweifeln dürfen. Eine gewisse Ausnahme
schien bisher noch das steif ceremonielle England zu machen.
In dem über Gebühr gepriesenen Heimathlande des prob-
lematischen Segens der parlamentarischen Vielköpfigkeit
hörte man verhältnißmäßigselten von Scandalscenen im Parla-
ment, die bis zum Halse zugeschnürte Grandezza der ge-
sellschaftlichen Etiquette verhinderte die Entfesselung der
Leidenschaften. Auch hier ist die aristokratische Blüthe
vorüber. Dieser Tage hat man bei Gelegenheit eines
öffentlichen Festes die elementarsten Anstandsregeln ver-
gessen und dem greisen Premier Gladstone, der gewiß
Politischen Gegnern genügend Blößen zum Angriff
bietet, aber immerhin eine ungewöhnliche Erscheinung ist,
die erste Pflicht, die selbst Barbaren heilig war, das Gastrecht
in schnödester und — sagen wir nur das bezeichnende
Wort — pöbelhaftester Form verletzt. Cs war der erste
Empfangsabend in dem ncubegründctcn Imperial-Insti-
tute, jenem Klublokal, das in bekanntem grotesken Um-
fange aufgerichtet worden, den unsere Vettern mit Ge-
schmack zu verwechseln lieben. Man sagt, an 20 000
Gäste hätten theilgenommen und der Thronerbe, der die
Honneurs machte, mochte wohl als Hausherr gelten. Das
verschlug nicht dagegen, daß, als Gladstone erschien, ihn
ein wahrer Hexensabbath,von Geräuschen, Pfeifen, Zischen,
Johlen empfing und Niemand gegen einen solchen
schimpf protestirte. Wenn cs ein Trost ist, Genossen
ju haben, so mögen die kontinentalen Lärmpolitiker jetzt
sehr befriedigt auf das Beispiel old Englands blicken.

Freisinnige Volksversammlung auf dem
Heidelberger Schloß im Bandhaus.
Heidelberg, den 23. Mai.
Trotzdem der Pfingstmontag in jeder Beziehung an-
Kethan war, alle Welt hinauszulocken in vie blühende
^knznatur, war doch gestern Nachmittag auf dem Schloß
^r mächtige Raum des Bandhauses von einer Menschen-
menge gefüllt, daß, wie der Volksmund sagt, kein Apfel
ÜUr Erde konnte. Zwar war wohl das Land überwiegend
Zertreten, doch stellte auch die Stadt aus allen Berufs-
"<rsscn ihr reichliches Contingent. Mag es sein, daß die
'Miner gern besuchte Schloßstätte einen Theil der An-
sehung ausübte, mag es auch sein, daß der Eine oder Andere
Mit besonderer Erwartung erschien, auf jeden Fall aber
?vb diese ungemein zahlreiche Versammlung ein beredtes
Jeugniß dafür ab, wie tief die politischen Fragen der
^"fgenwart a ll e und gerade die V o lk s schichten durch-
ftisigcn. Man mußte dazu von der Menge der Er-
'Hienen um so mehr überrascht sein, da die Bekannt-
machung der Versammlung fast unmittelbar vor dieser
l-Ibst cch stattfand.
- Die Versammlung eröffnete der Vorsitzende, Herr
Pkvf- Osthoff kurz nach -1 Uhr. In seiner Ansprache
Arte er — kurz gefaßt — etwa aus: Mit dem heutigen
Pfingstmontage treten wir in eine ernste politische Action
Nachdem sich innerhalb der freisinnigen Partei an-
Plich der Militärvorlage eine Theilung vollzogen, haben
Zr uns entschlossen, dem Banner Eugen Richters zu
^gcn. Große Aufgaben liegen vor, nicht nur die Frage
ft Militärvorlagc ist zu lösen, cs handelt sich auch um
^Me Menge fernerer freis. Zielpunkte. Von Seiten der
^Mionallibcralen sind zwar, was wir nicht tbun, immer
Versprechungen gemacht worden, doch wurden die
. Wartungen ebenso oft getäuscht. Auf sie dürfen sich
letzt große Erwartungen nicht richten. Der Frühling
und blüht jetzt draußen in der Natur so wie da-
z Ms, 1884, als unter Führung Miguels jenes „Heidel-
ftger Programm" ausgestellt wurde, das gepriesen wurde
Mn beginnender Frühling, allein die kalten Winter-
,ftfie kamen bald nach. Möge jetzt der freisinnige Früh-
z l> anbrechen! Wie unsere heutige Versammlung be-
Mend ist, ft ist cs auch die Stätte, an der wir ver-

sammelt sind. Was wir hier um uns sehen, sind Er-
innerungen an verwebte Fürstenherrlichkeit. Nur die Treue
des Andenkens an seine ehemaligen Fürsten ist im Pfälzer
Volke geblieben. Ich erinnere nur an jenen Friedrich den
Siegreichen, der bei dem Mahl zu Heidelberg die ge-
fangenen Fürsten bewirtbete ohne Brot und an jene Lise-
lotte, die auch drüben in der französischen Fremde
das Herz und die Sprache ihrer Heimath bewahrte. Nach-
dem Redner des Weiteren u. a. die servile Art ver-
schiedener Blätter, ein wichtiges Wort unseres Großherzogs
parteiabsichtlich wie kürzlich geschehen, zu unterschlagen,
gerügt und darauf hingedeutet hatte, wie man jetzt wieder
das Volk durch Verbreiten von Flugblättern u. s. w. ein-
zuschüchtern beginne, resumirte er: Die jetzige Politik ist
nur angethan, die Unzufriedenheit im Volke zu nähren.
Bezüglich des anwesenden Kandidaten Herrn Dr. Max
Gehrke aus Frankfurt bemerkte Redner, daß derselbe zwar
kein Heidelberger Kind und auch in Bezug auf die Land-
wirtschaft kein Fachmann, daß er jedoch mit ganzer Seele
ein Mann des Freisinns sei. Er seinerseits gab in Er-
wähnung verschiedener Bemerkungen gegenparteilichcr Blätter,
warum man ihn selbst nicht wieder als Kandidaten auf-
gestellt habe, eine Antwort dahin, daß er, gebunden an
seine Fachwissenschaft, sich weniger der Sache voll hin-
geben könne, daß er indeß jederzeit, wenn es nicht anders
möglich, bereit sei, für seine Partei zu canoidiren, sei es
auch nur, um ehrenvoll zu — unterliegen.
Als zweiter Redner legte sodann Herr Rechtsanwalt
Dr. Max Gehrke aus Frankfurt a. M. als Reichstags-
candidat in kurzen Worten seinen Standpunkt klar. Zu-
nächst bemerkte er, daß er zwar nicht in Heidelberg ansässig,
baß er jedoch Doetor der hiesigen Universität sei und führte
dann bezüglich seines Standpunktes an: Ich gehöre der
freisinnigen Volkspartei an, deren Ziele Jeder kennt.
Die Mi litärvo r la ge verwerfe ich, ebenso den Hucne'-
schen Antrag und zwar, weil die Regierung keinen ge-
nügenden Erweis gegeben hat, der die Heeresvermehrung
rechtfertigt. Ich werde hierin nicht wie andere Parteien
meinen Standpunkt ändern. Ferner darum, weil dem
Volk bei den drückenden wirthschaftlichen Verhältnissen der
Gegenwart nicht auch noch so schwere neue Lasten zuzu-
muthen sind, weil die 2jährige Dienstzeit nicht dauernd
festgesetzt werden soll und weil noch Niemand weiß, wie
die Kosten zu decken sind. Bezüglich der vorgeschlagenen
Stempel-, Branntwein- und Biersieuer verhält sich jetzt
die Regierung sehr schweigsam. Ich lehne diese Steuern
ebenfalls ab und wäre allenfalls nur für eine Reform der
Branntweinsteuer. Allein da wollen die Herren nicht daran.
Die 42 Millionen, die man den Schnapsbaronen verabfolgt,
sollte man jetzt nur lieber zur Deckung der Kosten ver-
wenden. Redner wies dann auf die Täuschung des Volkes
bei den Septennatswahlen 1887 hin und mahnte, man
solle sich diesmal nicht wieder bethören lassen. Die
Aeußerung eines Mitgliedes des preuß. Landtags citirend,
daß öffentliches Wahlrecht mehr zu empfehlen sei, als das
geheime, bemerkte Redner, daß die freisinnige Partei un-
dingt an dem geheimen dirccten Wahlrechtfest-
halte. Gleiches Recht für Alle. Kein Beruf
ist dem anderen vorzuziehen. Es kann gleich-
giltig sein, ob ein Landesfürst privatim nicht für die Vor-
lage geneigt ist, die Thatsache ist immer die, daß die
Bundesfürsten einhellig ihre Zustimmung gegeben haben
müssen. Es liegt daher jetzt lediglich in der Hand des
Volkes, ein entscheidendes Votum abzugebcn. Darauf allein
kommt jetzt alles an, und wenn Jeder sich seiner Sache
vollbewußt ist, dann sagen auch wir: Der Sieg ist
unser. Den Ausführungen folgten lebhafte Bravorufe.
Mit anhaltendem Beifall empfangen ergriff hierauf
der Referent Herr Muser-Offenburg das Wort und
führte aus: Der 15. Juni ist einer der wichtigsten Tage
in der neueren Geschichte des deutschen Volkes. Es soll
sich jetzt entschieden zeigen, ob die politische Durch-
bildung im Volk soweit gediehen ist, um zu erkennen,
was des Volkes wahres Interesse ist. Unsere Gegner
wiederholen bereits leider schon wieder die Angstmacherei
von 1887. Man hat auch bereits eine schmutzige Waffe
gegen uns in der Hand, indem man uns vorwirft, wir
seien zu engherzig gegenüber der Vorlage, wir seien nicht
patriotisch. Als ob Patriotismus nur in einer Hurrah-
stimmung liege! Wir Längen an unserem Vaterland wie
alle Parteien. Die Vaterlandsliebe an sich ist überhaupt
kein besonderes Verdienst oder ein auszeichnender Punkt,
nein, wir Alle, ohne Unterschied, werden unter den Fahnen
stehen, sobald es gilt. (Bravo!) Aber Patriotismus darf

sich ebenjnicht nur auf eine Machtstellung nach außen be-
schränken, sein Augenmerk muß sich auch auf das Inner c
des Vaterlandes richten. Der wahre Patriotismus muß
auch den Muth haben, die wirthschaftliche Notblage zu
vertreten, er muß überzeugt sein, daß eine fernere schwere
Belastung für die Schultern des Volkes zu drückend werden.
Nur derjenige Staat ist stark nach außen, der innen ein
lebensfähiges Volk hat. (Bravo!) Die Existenz der Nation
liegt bedingt in den breiten Massen, nicht in der Minder-
zahl einzelner Begüterter. Wenn mein Vorredner, der Herr
Kandidat, bemerkte, man wisse nicht, wie die Kosten zu
decken seien, so steht er in einem kleinen Widerspruch mit
mir, denn ich glaube, wir wissen, wer sie zu decken hätte,
nämlich gerade die, denen eine Entlastung zu wünschen,
am allerwenigsten aber eine Belastung zuzumuthen ist.
Unsere Gegner behandeln die Deckungsfrage sehr leicht.
Zwischen der Vorlage und dieser Frage ist aber keine
Trennung möglich. Keine Frage, daß die Kosten aufgebracht
werden, sobald cinmalJa gesagtist,u-was wird dann geschehen?
Dann wird die Regierung die Ma tri ku la r bei träge
erhöhen. Auch Baden müßte hierbei einige Millionen
aufbringcn. Nun frage ich Sie: Ist unser badisches
Volk in der jetzigen wirthschaftlichen Lage wirklich im
Stande, diese Erhöhung Leichten Herzens hinzunehmen?
In der Landwirthschaft hört man z. B. jetzt vielfache
Klagen. Wie kommt das? Die Bedürfnisse können nicht
entsprechend gedeckt werden. Auch der Staat selbst hat
an mancherlei Umstände zu denken, beläuft sich doch die
Reichsschuld bereits auf 2-Milliarden. Die Sachlage ist
derart, daß ein Volksvertreter nicht auf B e lastung, sondern
Entlastung denken muß. Anstatt immer neu zu fordern,
müßte man sparen, gerade im Militärwcfcn. Man müßte
sich hinsichtlich mancher Ausrüstungsstücke bei gewissen
Truppentheilen weniger Luxus gestatten, das macht im
Ganzen viel aus und die Armee würde darum an ihrem
Werthe nichts verlieren. Ein anderer Punkt, den man
unbedingt nicht bewilligen sollte, ist die Errichtung kost-
spieliger Offizier-Kasinos, die überhaupt nur
geeignet sind, den militärischen Eigendünkel noch schroffer
vom Bürgerthum abzugrenzen. Auch dem höchsten Offizier
würde es nicht schlecht anftebcn, wenn er einmal an
einem Tisch gemeinsam mit einem Bürger beim Glase
Bier gesehen würde. Allein das will man nicht, man
liebt es mehr, so von oben herunter. (Bravo!) Das aber
muß im Reichstag gesagt werden. Auch im Punkt der
Pensionirung bleibt etwas mehr Gerechtigkeit zu
wünschen. Allerdings wer wollte etwas gegen die Pen-
sionirung eines verdienten oder nicht mehr " dienstfähigen
Offiziers haben, aber wenn sich ein Offizier, wie oft der
Fall, pensioniren läßt, wenn er sich im Avancement zurück-
gesetzt zu sehen glaubt, also aus Ehrgefühl, so ist das
ein Punkt, der beseitigt werden muß. (Bravo.) Betrachten
wir den Bürgerstand: Wo penstonirt man da, wenn es
einem Angestellten cinfiele, aus „Ehrgefühl" seinen Dienst
zu quittiren? (Heiterkeit.) Wenn die Vorlage durchgeht,
wird dann in Baden auch die Verwirklichung einer
Besserstellung der niederen Beamten noch möglich sein?
Wird man dann nicht sagen: Ja, die erhöhten Matrikular-
beiträge — geht jetzt nicht? Wenn cs sich um Militär
handelt, dann ist eben alles Muß, gilt es aber eine Auf-
besserung im bürgerlichen Leben, so hat man wenig Eile.
Man hat auch dem Volk gedroht mit einem Conflfikt.
Es fft zu bedauern, daß man damit dem Volke Angst
machen will. Es giebl eben Fälle, in denen die Volks-
vertretung beweisen muß, daß sie zu etwas da ist. So
ist cs jüngst geschehen, und man sollte jenen Männern
von echt liberalem Schrot und Korn, die den Muth zu
einem schweren, aber pflichtschuldigen Nein hatten, "eine
bessere Behandlung angedeihen lassen, als man leider
thut. Volksvertreter, die nur bewilligen können, sollten
lieber abdankcn. (Bravo!) Ein Volksvertreter soll seine
Frage nicht zunächst nach oben richten: Was braucht ihr?
sondern zunächst nach unten. Er muß ein wahrer
Anwalt des Volkes sein. Dann aber wird man auch
eine Volksvertretung mehr respcctiren. Ein weiterer
Punkt, für den die Freisinnigen unablässig schon geschafft
haben, ist die Mil i tä rg er i ch ts re so rm, ebenso ist
es nothwendig, daß Reichstagsabgeordnetc Diäten
erhalten. So lange dies nicht der Fall, werden Viele,
die tüchtig dazu wären, aber den gespickten Geldbeutel
nicht haben, dem Reichstag fern bleiben müssen. Ich
erinnere an den nationalliberalen Wahlaufruf von 1887.
Darin hieß es: „Keine weitere Steuererböhung, keine
Verfassungsänderungen". Trotzdem kam das Zuckersteuer-
 
Annotationen