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Zürcher Kunstgesellschaft [Hrsg.]
Neujahrsblatt / Zürcher Kunstgesellschaft — 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.43224#0007
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Sie tun es mit aller Kraft und sind
das tobende Volk. Ein Alter in
langem Gewand ist Kläger für die
ganze Priesterschaft. Der Mär-
tyrer im mittelalterlichen Chor-
kleid betet, wird vom grausamen
Stein getroffen, von Gottvater zu
sich gerufen und ist schon mit
dem Nimbus verklärt. Ein paar
Blättchen und spärliches Gebüsch
bezeichnen den Schauplatz, die
Figuren aber stehen wieder nicht
in einer Landschaft, sondern nur
in einer Bildfläche. „Überall und
nirgends, nie und immer wieder'4
gilt auch für die, mit 1450 etwas
spät angesetzte, Gefangennahme
(Abb. 3); keine Andeutung eines
Schauplatzes, die Spieler in drei
Gruppen neben einander gestellt,
Christus violett mit dem gelben
Judas in der Mitte, Petrus in rotem
Mantel und hellblauem Kleid, der

Abb. 2. Basler Schule. 1. Hälfte XV. Jahrhundert.
Steinigung des Stephanus. Privatbesitz Basel.


kleine Malchus rot und weiß, der Knecht

mit der ewig gültigen, unsterblichen Häschergebärde (wie wird die Hand
schwer auf die Schulter fallen!) hellgrün, die Scharwache eine einzige Masse,
in kleinerer Teilung farbig schön belebt. Das ganze Bild fein und licht koloriert
wie eine Miniatur oder ein weich abgestimmtes Fresko.

Unbegreiflich, fast wie ein Wunder, erscheint neben solchen Tafeln das
Werk von Konrad Witz. Die Wissenschaft bemüht sich, seine Wurzeln bloß-
zulegen. Sie liegen in einer andern künstlerischen Tradition, weisen nach den
Niederlanden und nach Burgund, nicht nach Franken, Bayern oder Schwaben,
und in einer andern künstlerischen Form, wo der Raum und in ihm das Einzel-
dasein der Dinge mehr gilt als die geschmückte Fläche. Die Figuren lösen sich
von einander und vom Grunde und bewegen sich auf einer Bühne, nicht nur
an ihrem Platz im Viereck. Der Bildgrund öffnet sich als Landschaft mit einem
breiten Seespiegel, mit Weiden, Wäldern, Bergen, ebensoviele gestaffelte Pläne;
Türme, Mauern und Pforten schieben sich gegeneinander und stoßen sich in
harten Winkeln; eine Kirchenhalle wird aufgebaut; Fenster und Türen tun
sich auf, am Ende von schachtähnlichen Gängen, und ziehen den Blick über
die heiligen Figuren hinweg auf Gasse und Marktplatz. Und wie die Dinge
sich formen, auseinander- und wieder zusammenstreben, greifbar werden, so
nehmen an dem neuen Leben auch die Farben teil. Sie sind nicht mehr Schmuck
des Bildes, sondern gehören den Dingen, die das Bild umschließt. Das tiefe
 
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