Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
94

Kaiserin an die Nonnen von Kaufungen — ob echt, erscheint frag-
lich — dient offenbar dem Beweis, in welch innigem Verhältnis Kuni-
gunde schon vor ihrer Klosterzeit zum dortigen Konvent stand. Das
vierte Kapitel der Vita berichtet ausführlich über den 13. Juli 1025,
jenen Tag, an dem die Kaiserin in Kaufungen den Schleier nahm.
Eine große Zahl geistlicher und weltlicher Fürstlichkeiten nahm an
den Feierlichkeiten teil. Es entsteht so ein Bild der Kaiserin, wie es
die Legende in den nachfolgenden Generationen entwickelte. Ein
Tugendkatalog wird gegeben, wie er mehr oder weniger auf jede
fromme Frau des Mittelalters paßt: Kunigunde die erste im Gebet
und in der Messe, die eifrigste bei der Arbeit und bei der Pflege der
Kranken, die genügsamste beim Mahle, in der Kleidung und bei
sonstiger Bequemlichkeit. So wohlgefällig war ihr Leben vor Gott,
daß sie schon zu Lebzeiten seine Gnade sichtlich erfuhr. Häufig auf-
tretende Legendenmotive werden abgewandelt: Kunigunde war einst-
mals, vom vielen Nachtwachen ermüdet, über dem Lesen einge-
schlafen. Ihrer Vorleserin entfiel das Licht und steckte das Bettstroh
in Brand. Erst durch das Wehklagen und den Lärm der anderen
Schwestern erwachte die Heilige; durch ein Kreuzzeichen vermochte
sie die Flammen zu löschen, die weder ihr noch anderen ein Leid
getan hatten68. Es gehörte eben zur Natur des Heiligen, daß ihm die
Elemente gehorsam waren, und in fast jeder Vita des späteren Mit-
telalters findet sich ein Bericht über die Überwindung der Natur-
gesetze durch den oder die betreffende Heilige69. Topisch ist auch die
poetische Schilderung der Vita, wie selbst die Sonne der heiligen
Kunigunde dienstbar war: als sie eines Tages während der Messe
zum Opfer schreiten wollte und niemand fand, der ihren Handschuh
hielt, hängte sie ihn an einen einfallenden Sonnenstrahl, der ihn ge-
duldig trug, bis St. Kunigunde nach dem Opfer zurückkam und ihr
Eigentum wieder an sich nahm70. Gleiches wissen die Legenden auch
von St. Goar und anderen Heiligen zu berichten'1. Die Erzählung
braucht deswegen keineswegs direkt entlehnt zu sein; das Motiv war
allgemeingültig für alle Heiligen schlechthin. Audi eine dritte Wun-
dergeschichte hat in der Hagiographie ihre Parallelen72. Die Nichte
der Kaiserin, die Äbtissin Jutta, begann bald nach dem Eintritt
Kunigundens in Kaufungen in ihrem Eifer für das klösterliche Leben
68 Vita Cunegundis c. 6, SS. IV p. 823.
69 Günter, Psychologie der Legende S. 187 ff.
70 Vita Cunegundis c. 2, SS. IV p. 822.
71 Vita S. Goaris, SS. rer. Merov. IV p. 416; der Verfasser der Vita
Cunegundis bezieht sich auf diesen Vorgang.
72 Günter, Psychologie der Legende S. 170 ff.
 
Annotationen