Phantasie. Begriffliches Denken. , 227
hatten, um jeden Preis zu deuten und ihnen die Gewißheit dies-
seitiger und jenseitiger Segnungen aufzuheften. Eine solche Aufgabe
führte unvermeidlich weit aus den Sphären handgreiflicher Anschau-
lichkeit hinaus. Was hier verlangt war, das konnte nur eine Phan-
tasie leisten fessellos wie eben die indische Phantasie war, arbeitend
mit dem nachgiebigen Stoff, den die sakrale Traum- und Zauber-
sphäre überreich zur Verfügung stellte. Da schuf man sich denn,
vielfach die Eigenheiten uralter Vorstellungsweise ins Ungemessene
steigernd, dieses Weltbild, wie wir es kennen gelernt haben, gleich
arm an Wahrheit und Anschaulichkeit wie an Poesie: wo Raum-
und Zeitgrößen wirr durch einander wogen, wo das, was irgend
ein Wesen tut, jedes andre noch so verschieden geartete Wesen auch
tun kann, wo alles nach Laune und Willkür bald als Fluidum sich
ergießt, bald als Person spricht oder begehrt —, wo kurzweg alles
mit allem in jedem beliebigen Zusammenhang steht, am liebsten
aber kurzweg mit ihm identisch ist.
Nun ist es von Bedeutung zu beobachten, wie in diesem Vor-
stellungschaos die Anfänge begrifflichen Denkens, das sich später in
Indien so eigenartig und kühn entwickeln sollte, sichtbar werden.
„In jeder Jahreszeit", sagte man, „ist die Gestalt aller Jahres-
zeiten" (S. 106): damit ist, vielleicht unbehilflich aber doch deutlich,
der Allgemeinbegriff als solcher erfaßt. Einen etwas reicheren Vor-
rat über dem Besondern sich erhebender, umfassenderer Allgemein-
begriffe auszugestalten ist man in den Brähmanas selbstverständlich
erst aus dem Wege. Wie aus den konkreten Vorstellungen von
„Weltgegenden" und „Jahr" sich das Bewußtsein der reinen Raum-
und Zeitanschauung eben erst entwickelt (S. 37 f.), so hat sich bei-
spielsweise neben die Ausdrücke für einzelne Empfindungen noch
keiner für Empfindung überhaupt gestellt iS. 77). Wenn der all-
gemeinste aller Begriffe, das „Sein" oder genauer das „Seiende"
in den Brähmanas vorhanden ist, ja auch schon in älterer Zeit vor-
handen war, so möchte ich nicht für evident halten, daß die be-
treffende Leistung des Denkens ganz so hoch zu bewerten ist, wie
das der Weite jenes Begriffs entspräche. Die jede Grenze über-
fliegende Zusammenfafsung alles Seins konnte dem Gedanken wohl
leichter gelingen, als die scharfe Erkenntnis irgend einer bestimmten
Grenzlinie, welche es gegolten hätte diesseits jener letzten verschwim-
menden Ferne festzulegen. Am wenigsten entwickelt sind in den
Brähmanas, wie zu erwarten, die Begriffe, die nichts Anschaubares
15*
hatten, um jeden Preis zu deuten und ihnen die Gewißheit dies-
seitiger und jenseitiger Segnungen aufzuheften. Eine solche Aufgabe
führte unvermeidlich weit aus den Sphären handgreiflicher Anschau-
lichkeit hinaus. Was hier verlangt war, das konnte nur eine Phan-
tasie leisten fessellos wie eben die indische Phantasie war, arbeitend
mit dem nachgiebigen Stoff, den die sakrale Traum- und Zauber-
sphäre überreich zur Verfügung stellte. Da schuf man sich denn,
vielfach die Eigenheiten uralter Vorstellungsweise ins Ungemessene
steigernd, dieses Weltbild, wie wir es kennen gelernt haben, gleich
arm an Wahrheit und Anschaulichkeit wie an Poesie: wo Raum-
und Zeitgrößen wirr durch einander wogen, wo das, was irgend
ein Wesen tut, jedes andre noch so verschieden geartete Wesen auch
tun kann, wo alles nach Laune und Willkür bald als Fluidum sich
ergießt, bald als Person spricht oder begehrt —, wo kurzweg alles
mit allem in jedem beliebigen Zusammenhang steht, am liebsten
aber kurzweg mit ihm identisch ist.
Nun ist es von Bedeutung zu beobachten, wie in diesem Vor-
stellungschaos die Anfänge begrifflichen Denkens, das sich später in
Indien so eigenartig und kühn entwickeln sollte, sichtbar werden.
„In jeder Jahreszeit", sagte man, „ist die Gestalt aller Jahres-
zeiten" (S. 106): damit ist, vielleicht unbehilflich aber doch deutlich,
der Allgemeinbegriff als solcher erfaßt. Einen etwas reicheren Vor-
rat über dem Besondern sich erhebender, umfassenderer Allgemein-
begriffe auszugestalten ist man in den Brähmanas selbstverständlich
erst aus dem Wege. Wie aus den konkreten Vorstellungen von
„Weltgegenden" und „Jahr" sich das Bewußtsein der reinen Raum-
und Zeitanschauung eben erst entwickelt (S. 37 f.), so hat sich bei-
spielsweise neben die Ausdrücke für einzelne Empfindungen noch
keiner für Empfindung überhaupt gestellt iS. 77). Wenn der all-
gemeinste aller Begriffe, das „Sein" oder genauer das „Seiende"
in den Brähmanas vorhanden ist, ja auch schon in älterer Zeit vor-
handen war, so möchte ich nicht für evident halten, daß die be-
treffende Leistung des Denkens ganz so hoch zu bewerten ist, wie
das der Weite jenes Begriffs entspräche. Die jede Grenze über-
fliegende Zusammenfafsung alles Seins konnte dem Gedanken wohl
leichter gelingen, als die scharfe Erkenntnis irgend einer bestimmten
Grenzlinie, welche es gegolten hätte diesseits jener letzten verschwim-
menden Ferne festzulegen. Am wenigsten entwickelt sind in den
Brähmanas, wie zu erwarten, die Begriffe, die nichts Anschaubares
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