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Von L ^ n 5 f

s ist bis zur Stunde viel gerechnet
> worden. Schon lange vor den
Spielen fing es an. Man hat die
Sprunghöhen gegeneinandergestellt und
die Wurfweiten miteinander verglichen.
Man hat in Zehntelsekunden ausge-
wertet. die Japan und Amerika in den ver-
schiedenen Schwimmstrecken von einander
trennen. Die bezwungenen Gewichte sollten
darüber Aufschluß geben, welches Land wohl
die Goldmedaillen im der Schwerathletik niit-
nähme. Mit Leidenschaft ist abgewogen und
berechnet worden, nicht nur bei uns, sondern
auch in allen anderen Ländern. Es war ein
aufregendes Würfelspiel, das die Tage vor
Olympia erfüllte. Eben meinte man,

Amerika hatte mit einer Meldung
über einen Sprung von Iesse Owens
den größten Wurf getan, da kam
eine Meisterleistung von Long, und
wieder waren die nach Klarheit
suchenden Sportländer in einer fie-
brigen Ungewißheit.

Die Spiele sind nah herangerückt,
so nahe schon, daß wir den Atem
der Entscheidungen spüren. Da sinken
plötzlich die Hände, mit denen die
Sieger errechnet werden sollten, die
Zweiten und die Dritten. Wir sind
^ht an den Vorhang herangekom-
mesi und spüren, daß unsere Doku-
mente, Klugheit und Erfahrung —
doch nicht für die Berechnung aus-
reichen, die das Spiel hinter diesem
Vorhang uns bringen wird. Wir
haben alles gut notiert, was die
Beine des Hochspringers geleistet
haben und die Arme.des Kugel-
stoßers. Was aber wissen wir von
dem Menschen?In Tokio wurde
eine bestimmte Zeit geschwommen,
eine unbegreifliche Zeit. Aber über
Tokio ist ein anderer Himmel als
über Berlin. Die Kampfbahn dort
und die Stadt strömen andere Kräfte
aus als die Fremde, und diese ge-
heimnisvollen Kräfte wirkten ja
auch mit, als die Wundexzahl des
japanischen Schwimmers geboren
wurde.

Was weiß auch der klügste Rechner
von dem Herzen eines Sports-
manns, der an einem sonnigen
Augusttag in dem brandenden Kessel
eines Riesenstadions steht? Auch die
urwüchsigen amerikanischen Jungen,
die so hoffnungsvoll und lachend
vom Bahnsteig des Lehrter Bahnhofs
auf uns zukamen, werden ernst wer-
den, wenn die große Waage zu pen-
deln beginnt. Dann stehen sie an
ihren Startlöchern ganz allein, weit
von ihrer Heimat, die Peruaner
und Chinesen, die Südafrikaner und
die Mädchen aus Japan. Auch un-
sere deutschen Athleten werden dem un-
heimlichen Bann nicht entgehen können, der
von zweihunderttausend Augen ausgeht, er-
wartungsvollem, hoffenden, neugierigen, be-
fehlenden Augen. Das Herzpochen des vor
die Entscheidung gestellten, kleinen Olympia-
kämpfers wird schwer zu ertragen sein, wenn
um ihn die letzte Stille auf den Rängen der
Kampfbahn anbricht. Dann aber ist der
olympische Augenblick da, den kein
Weiser zu berechnen imstande ist, und dann
geschieht es auch, daß Leute versagen, deren

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Olympiasteg von der ganzen Welt voraus-
gesagt wurde. Dann bricht plötzlich, von einer
unberechenbaren Kraft vorwärtsgetrieben, aus
dem Feld ein Mann heraus, mit einem eigen-
artigen Glanz in den Augen, und dieser
Mann gewinnt und wird Olympiasieger.

Wo aber liegt das olympische Ge-
heimnis, das uüs die Wunder der Schick-
salsstunde zu erklären vermag, das Versagen
der Favoriten und die unerwartet große Lei-
stung von Leuten, die sich dann selbst über-
treffen. Die Stunde des olympischen Kampfes
ist einmalig, sie hat ihre besonderen Gesetze,
sie hat nichts zu tun mit der beschaulichen
Lrainlngsstunde und dem Vereinskampf. Dar-

sterschaften in Darmstadt gewann- der japa-
nische Student Fudjita den 110-Meter-Hür-
denlauf. Als die Sonnenfahne seiner Heimat
vor ihm aufging und, wie ein getragener
Gruß aus dem Osten, seine; Nationalhymne
durch die Kampfbahn klang,; begann Fudjita
zu weinen, nicht für die Menschen. Er hielt
Abrechnung mit sich und mit:dem Glück, für
sein Land Sieger in den Weltspielen gewor-
den zu sein. Aber glaubt man vielleicht, er
habe die Sonnenfahne nicht schon vorher ge-
sehen, als er mit beklommenem Atem am
Start stand? Sie wehte leicht und unsichtbar
über'ihm, und auch das steht Nicht in den
Zahlen...

über sprachen wir mit Georg Brechenmacher,
dem sechsmaligen deutschen Meister im Kugel-
stoßen, der jetzt als die rechte Hand des Olym-
pia-Inspekteurs Busch deutsche Olympia-
Leichtathleten betreut. Darüber waren wir
uns einig, daß das Geheimnis von Olympia
nicht an der Oberfläche zu suchen ist, sondern
in der Tiefe der menschlichen Seele liegt.
Wenn Hunderttausend im Sportfeld aufstehen
werden, ergriffen von dem Ende eines Kamp-
fes, das sie nicht fassen können, dann haben
jene Rechner sich geirrt, weil sie das seltsame
Singen des Blutes nicht in ihre Kalkulation
einbezogen. Bei den akademischen Weltmei-

Ein Kämpfer, der in Olympia bestehen will,
muß Selbstbeherrschung haben. Die
Empfindungslosigkeit macht es nicht, und die
Ruhe der Sofaecke bedeutet sogar den Tod der
Erfolge. Es darf sogar die Unruhe dabei
sein, die edle Pferde vor denen mit minderen
Blutströmen am Start voraus haben, weil
in dem richtigen Athleten schon die Ruhelosig-
keit des Kampfes schwingen muß, bevor der
Startschuß fiel. Dressiert muß der Olympia-
mann aber auf die Sekunde der Entscheidung
sein, in diesem die Traumbilder von vier
Jahren zerreißenden Augenblick hat sich noch
einmal alles zu straffen, Körper und Seele,

der Ehrgeiz und die Sehnsucht in die Weite
der Welt müssen gegenwärtig sein, Liebe darf
hineinfließen, alle in der Tiefe des begeh-
renden Herzens wachen Kräfte. Bon tausend
Schwingen wird da der Körper vorwärts ge-
stoßen. Aber man muß ihrer Herr sein, wenn
es gilt. Und nur die besten Uhrwerke schlagen
haargenau auf die Sekunde.

An die Kampfstätte muß der Mann ge-
wöhnt sein, sonst wird er sich fremd und ge-
. drückt fühlen, wenn er im Wurfkreis steht.
Die Dahn soll ihn vertraut ansehen, die. steil-
ansteigenden Sitzreihen sollen ihn freundlich
grüßen. Aber es ist eine Kunst, den Alp nicht
zu spüren, der von der brausenden Arena
ausgeht, die Kunst des geborenen
Olympiasiegers.

Als wandere er an einem verhei-
ßungsvollen Frühlingstag durch
Wald und Wiesen, so schreitet der
aussichtsreiche Läufer an den Start.
Wer dort steht gleich dem Vogel, der
nur seine Schwingen zu heben
braucht, hat es leichter als der Un-
freie und Verkrampfte, denn gedan-
kenschnell geht der Hundertmeterlauf
vorüber, da ist keine Zeit, gegen die
innere Belastung anzukämpfen.

Das letzte Geheimnis »vrr Olym-
pia aber ist nicht die Beherrschung
und die Konzentration aus die ent-
scheidende Sekunde, ist nicht die
Freiheit der Bewegung, ist nicht die
Leichtigkeit des Denkens in Erwar-
tung der Entscheidung. Das letzte
Geheimnis liegt in der Magie
eines Augenblicks, der alle
in seinen Rausch zwingt, Zuschauer
und Kämpfer. Der Mann, der so
ruhig in dem erregten Oval steht,
als wäre er an einem stillen Nach-
mittag auf seinem heimischen Sport-
platz beim Training, ist zu beneiden.
Ihm ist die normale Leistung nicht
zu nehmen, aber mit ihr gewinnt
man nicht im Olympia. Einzig und
groß ist der, den Stunde und Bahn,
Menschen und Fahnen, Toben und
plötzliche Stille anrühren und tief
erregen. Aus der Weihe des Augen-
blicks heraus wuchsen die Sieger von
Olympia, deren Siege man nie be-
greifen wollte. Kein Bild in der
schillernden Serie der Spiele ist so
schön wie der Verzweiflungslauf des
Langstrecklers, den der zu gewin-
nende Preis besessen gemacht hat.
Kein Vorgang ist so olympisch wie
der Wurf des siegreichen Athleten,
dem eine Kraft den Arni führte, die
nicht weit von der Frömmigkeit
liegt. Jene Sieger, die mit einer letzten
Vision aus dem Meer der Flaggen noch
einmal ihre Fahne aufsteigen sahen, um
in diesem Zeichen zwei Sekunden besser
zu laufen, als sie es je vorher taten,
sind die großen Olympioniken. Denn aus
ihrem übermenschlichen Beginnen bricht
die wahre Geschichte des Hains auf, die
von den Göttern entfachte Leidenschaft grie-
chischer Jünglinge, und der Todeslauf von
Marathon. Wer möchte da noch mit Zahlen
berechnen, was bei den Spielen in Berlin
geschehen wird, wo bei dem Kampf der Kör-
per auch das geheimnisvolle olympische Wal-
ten der Seelen ist?!?

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