Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext

z-'

L.0

Wenn die ausgeklügeltsten technischen Meß-
verfahren in den Dienst des Sports gestellt
werden, wenn man versucht, für jeden Teil-
nehmer genau dieselben Bedingungen zu
schaffen, unter denen er kämpft, wenn man
den Modus, nach dem die Ausscheidungs- und
Vorkämpfe ausgetragen werden, immer wieder
überprüft, wenn man den entscheidenden
Urteilsspruch nicht einem, sondern mehreren
Richtern anvertraut, so zielen all diese Maß-
nahmen darauf ab, den Zufall, das unver-
diente Glück oder Mißgeschick aus dem Ver-
lauf der Wettkämpfe nach Möglichkeit auszu-

zuschalten, so bleiben doch immer noch genug
andere Zufälligkeiten übrig, denen vorläufig
auf keine Weise beizukommen ist.

Wollte man ganz spitzfindig sein, so könnte
man sagen, daß schon die Einführung des
Zielfilms gerade jetzt ein Glücksmoment für
verschiedene Teilnehmer und ein Unglücks-
moment für andere ist. Aber von solchen
Feinheiten soll einmal ganz abgesehen werden.
Es gibt viel handfestere Dinge.

In erster Hinsicht das Wetter.

Die Teilnehmer an dem Olympia von 1936
können ein Liedchen vom Wetter singen!

der Nervöse dagegen schwache Nebenleute,
denen er weglaufen kann, dann wird sein
Stil, da er sich unbedrängt weiß, immer
lockerer und seine Zeit besser. Der Zehn-
kämpfer kann sich seine Nebenleute aber eben-
so wenig auswählen wie das Wetter. Zufall.
Glück. Pech.

Ganz offen, ja sozusagen amtlich wird das
Glück aber bei den verschiedenen Auslosungen,
etwa bei der Auslosung der Laufbahnen ein-
geladen, sein launisches Lächeln diesem oder
jenem zu schenken. Der 200-Meter-Läufer,
der 400-Meter-Läufer, der die Außenbahn er-


schalten. Gleiches Recht für alle, das ist
das Ideal.

Das Kampfgericht könnte seinen Namen
geradezu daher haben, daß es dauernd im
Kampf mit den winzigen Tücken und Zufällig-
keiten lebt, die trotz ihrer Winzigkeit imstande
sind, das Ergebnis eines Wettkampfes zu ver-
fälschen. Was der Mensch in dieser Hinsicht
leisten kann, geschieht. Und wo die unbestech-
liche Technik das menschliche Wahrnehmungs-
vermögen, daß eben nur ein menschliches, das
heißt ein nicht hundertprozentig exaktes ist,
ersetzen kann, wird sie eingeschaltet. Ganz zu
schweigen von den Fällen, in denen die Technik
den Menschen weit übertrifft, wie das zum
Beispiel beim Zielfilm der Fall ist. Gäbe es
den Zielfilm nicht, dann hieße die bei diesen
Spielen die Zweite im 80-Meter-Hürden-
lauf nicht Steuer, sondern Testoni, die in
Wirklichkeit Vierte wurde, und die Dritte nicht
Taylor, sondern Steuer. Die Zielrichter hatten
trotz schärfster Aufmerksamkeit etwas anderes
gesehen als die Linse der Filmkamera.

Wenn es auch gelingen sollte, die mensch-
liche Unzulänglichkeit mehr und mehr aus-

Selbstverständlich benachteiligte kaltes regne-
risches Wetter alle Kämpfer, die aus sonnigen
Ländern kommen auf das empfindlichste.
Hätten wir statt der Kälte eine drückende Hitze,
so wären wieder andere im Vorteil. Das
Wetterglück spielt eine große Rolle, es kann
sogar eine ausschlaggebende Rolle spielen.

Da sind vielleicht die Zehnkämpfer beim
400-Meter-Lauf. Wie die ersten Sechs über
die Bahn gehen, scheint noch die Sonne, die
Bahn ist trocken und schnell. Die letzten Sechs
finden, da es regnerisch und kühl geworden
ist, eine nasse und schwere Bahn vor. Bei der
Bewertung ihres Laufens wird jedoch keine
Rücksicht darauf genommen. Glücklich, wer
unter den ersten war!

Bleiben wir noch etwas bei den Zehn-
kämpfern. Es gibt Leute, die erst dann zu
ihrer höchsten Leistung auflaufen, wenn sie
durch einen Kampf dazu gezwungen werden.
Und es gibt andere, die umgekehrt im Kampf
die Nerven verlieren und verkrampft und
langsam werden. Geht der Kämpfer nun mit
schwachen Nebenleuten über die Bahn, die ihn
nicht treiben, dann ist seine Zeit schlecht. Hat

lost, ist ohne Zweifel von vornherein benach-
teiligt. Er sieht seine Gegner nicht, er läuft
zunächst gegen die Zeit. Während der Glück-
liche, der die Innenbahn erwischt hat, einen
Ueberblick über das Ganze behält und jeder-
zeit weiß, wie er im Rennen liegt. Der Vor-
teil der Innenbahn mag bei den 200 Metern so
groß nicht sein, weil die 200 Meterstrecke
heutigentags von Anfang bis Ende mit ganzer
Kraft und ohne allzu viel Taktik durchrast
wird. Bei den 400 Metern liegt die Sache
schon anders. Da kann, bei sonst gleicher
Leistung, die Bahn den winzigen aber ent-
scheidenden Ausschlag geben. Und wem ver-
dankt der Läufer die Innenbahn. Dem Los.
Dem Glück.

Es gehört mit zu den Anforderungen, die
der Sport an den Athleten stellt, daß er seinen
Körper und seinen Geist gerade an dem Tage
„fertig" hat, an dem es darauf ankommt. Das
hat zunächst nichts mit dem Glück zu tun, das
ist eine Sache, die Verstand, Willen und Weit-
sicht erfordert, eine schwierige Sache, aber eine
Sache, die geleistet werden kann. Fragt ein-
mal den Trainer! Zunächst hat er nichts mit

dem Glück zu tun. Bei genauerem Zusehen
aber doch. Daß der Organismus der Frau be-
deutsamen Schwankungen unterworfen ist,
weiß jeder. Mit dem Körper des Mannes
steht es nicht anders. Wenn man die tägliche
Funktion von gewissen Drüsen, vorwiegend
der inneren Sekretion, mißt und graphisch
darstellt, so erhält man eine Kurve, die ganz
deutlich in bestimmten Abständen immer wie-
der die gleiche Gestalt hat. Das Auf und Ab
dieser Kurve, das dem Hormonforschcr wohl-
bekannt ist, läßt sich normalerweise nicht beein-
flussen. Tritt nun ein Sportsmann gerade
an einem Zeitpunkt zum Kampf an, an dem
diese seine Kurve ihren Höhepunkt hat, so ist
er leistungsfähiger als einige Tage oder
Wochen später. Vielleicht erklärt sich daraus,
wenigstens zum Teil, die merkwürdige Er-
scheinung, die „Ueberform" genannt wird.
Auf jeden Fall spielt hier eine Macht eine ge-
wisse Rolle, die außerhalb des menschlichen
Willens steht. Glück, Schicksal, Zufall ... der
Name besagt nicht viel.

Da mag ein Olympiakämpfer noch so ge-
wissenhaft trainiert und noch so regelmäßig
gelebt haben, mit einem Male, in der letzten
Nacht vor dem großen Tag, an dem sich alles
entscheidet, wacht er auf, durch irgendein
lächerliches Geräusch vielleicht, durch irgend-
einen dummen Traum vielleicht, und dann
kann er nicht wieder einschlafen, und dann
wälzt er sich von einer Seite auf die andere,
und dann vergeht Viertelstunde um Viertel-
stunde ... unersetzlkhe Schlafenszeit vergeht
... jene Schlafenszeit, die ihm vielleicht ge-
rade das bißchen Kraft und innere Bereit-
schaft gegeben hätte, das ihm am nächsten Tag
zum Siege fehlt.

Viel tut der menschliche Wille. Aber das
Letzte, das Feinste, das Pünktchen aufs i ver-
leiht das Glück.

Beim 5000-Meter-Lauf sieht es so aus, als
sollte sich das Drama des 10 000-Meter-Laufs
wiederholen. Der Japaner Murakoso im
Kampf mit drei Finnen. Diesmal heißen sie
Salminen, Höckert und Lehtinen. Wieder
wissen die Finnen genau, was sie wollen. Ihr
Sieg ist gewiß. Ungewiß ist lediglich, wer von
den dreien die Goldene, wer die Silberne und
wer die Bronzene mit nach Hause nehmen
wird. Die finnische Mannschaft auf der Tri-
büne ist der Ansicht, daß kein anderer als
Salminen für die Goldene in Frage kommt.
Plötzlich, in der vorletzten Runde, stolpert
Salminen, schwankt, stürzt hin, mit der linken
Schulter voran und überschlägt sich. Wenn er
auch sofort wieder auf den Beinen ist und
sandbeschmiert und blutend weiterläuft, die
fünfzig Meter, die er verloren hat, kann er
nicht wieder gutmachen. Ob das Stolpern
reines Pech oder ob es seine Schuld war, wer
kann das sagen? Jedenfalls gewinnt auf diese
Weise der Schwede Iohnsson, der Murakoso
inzwischen in verbissenem Kampf niederge-
rungen hat, eine bronzene Medaille, die ihm
wohl kaum beschieden gewesen wäre. Salmi-
nens Sturz wurde sein Glück.

Glück ... Mißgeschick ... Zufall ... sie soll-
ten beim sportlichen Kampf nicht vorhanden
sein. Aber sie sind da, was der Mensch auch
anstellen mag, um sie zu verjagen. Immer
wieder greift eine schicksalhafte Macht von
außen her in die olympischen Entscheidungen
ein. Bald leise und kaum spürbar, bald so
brutal, daß man aufschreit vor Empörung.

Sie sollten nicht da sein. Und doch ... es
ist gut, daß es sie gibt. Aus vielen Gründen.

37S
 
Annotationen