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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Erstes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0007
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ünlvers^tsbi^otiiek
f Fretog IBf.
inst, für Grenzgebiete
der Psychologie e.V.

Der Orchideengarten
Phantastische Blätter
Herausgeber Karl Hans Strobl /\ Schriftleiter Alf von Czibulka
Dritter lahrg-ang /Erstes Heft
J 6 6 f <2?\

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/32/I

EINE GESPENSTERGESCHICHTE
AUS DEM CHINESISCHEN NOVELLENBUCH „LIAO-CHAI".

Übertragen von Hilde Supan.

(Mit zwei Zeichnungen von E 1 i s a b e tb Wrede.)

n Tung-Yüo lebte einst ein Mann,
namens Ko. Als er eines Abends,
von einem Besuche heimkehrend,
durch das Gebirge wanderte, ver-
lor er den Weg. Bis Mitternacht
irrte er in Gestrüpp und tiefem
Dickicht umher. Plötzlich hörte er über
sich, von einem Berggipfel her ah, lautes
Gelächter ertönen. Schnell erstieg er die
Höhe, und oben angelangt, fand er etwa ein
Dutzend Menschen am Boden sitzen und
Wein trinken. Als sie ihn erblickten, be-
grüßten sie ihn freundlich: „Bitte, nehmen Sie
Platz; es fehlt gerade noch einer in unserer
Gesellschaft. Sie kommen sehr gelegen.“ Er
setzte sich nieder, sah umher und bemerkte,
daß die meisten der Anwesenden Gelehrten-
abzeichen trugen. Späterhin fragte er sie nach
dem ^Vege. Einer erwiderte ihm lächelnd:
„Sie scheinen ein rechter Stubengelehrter zu
sein, daß Sie nur an den Heimweg denken und
den herrlichen Mondschein nicht beachten, der
zum Gelage leuchtet.“ Sie schenkten ihm köstli-
chen Wein ein, dem er fleißig zusprach, da er
ein trinkfester Bursche war. Da lobte ihn die
ganze Gesellschaft als einen würdigen Genossen.
Nun besaß er eine Fähigkeit, womit er schon
manche Gesellschaft belustigt hatte: er konnte
Vogelstimmen nachahmen. Nach einiger Zeit
ging er ein wenig abseits und ahmte das Ge-
zwitscher einer Schwalbe nach. Alle waren
erstaunt, woher so spät des Nachts noch eine
Sch w albe kommen könne. Nun lie ßer einen Kuk-

kuck rufen, und die Verwunderung stieg. Dar-
auf kam er zurück und setzte sich lächelnd nie-
der. Den Kopf beiseite wendend, krächzte er wie
ein Rabe, den man sprechen gelehrt hat: „Herr
Ko ist betrunken, bringt ihn heim.“ Niemand
ahnte, woher diese seltsamen Laute kamen.
Als er jedoch nach kurzer Zeit seine ^Vorte
wiederholte, entdeckten sie den Spaß. Alle
begannen laut zu lachen und versuchten, es
ihm nachzutun, jedoch gelang es keinem. Einer
sagte: „Es ist schade, daßdieTsing-Niabg-Tse
nicht hier ist.“ — „Macht nichts,“ entgegnete
ein anderer, „wir alle treffen im Herbst hier
wieder zusammen, und Herr Ko muß dann auch
kommen.“ Ko war es zufrieden. Einer erhob
sich nun und sprach: „Herr Ko hat uns mit
seiner schönen Kunst erfreut, nun wollen wir
ihm auch unser Kunststück zeigen.“ Alle stan-
den auf und nahmen einen in die Mitte. Ein
zweiter sprang auf dessen Schultern und stand
da gerade aufgerichtet. Dann sprang ein dritter
auf des zweiten Schultern, ein vierter folgte.
Höher jedoch vermochten sie nicht zu springen.
Die andern kletterten nun wie auf einer Leiter
an den schon Stehenden hinauf, bis alle zwölf
übereinander standen. Ko blickte an ihnen
hinauf, und es schien ihm, daß sie bis in die
Wolken reichten. Da plötzlich fielen sie lang
hin, und im Augenblick hatten sie sich in eine
Straße verwandelt. Lange blieb Ko verwun-
dert stehen. Endlich beschritt er den seltsamen
Weg, ging auf ihm weiter und gelangte nach
langem Wandern nach Hause.



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