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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Erstes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0015
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■^7.


Der Geist.

Aus Thomas Ingoldsby: The Ingoldshy Legends (1840).

stürzte. Das Unerklärlichste dieses Zustandes
der Gräfin aber lag darin, dal? sie auch nicht
das mindeste an Speise zu sich nahm, vielmehr
gegen alles, vorzüglich aher gegen Fleisch, den
unüberwindlichsten Abscheu bewies, so dal?
sie sich jedesmal mit den lebhaftesten Zeichen
dieses Ahscheues vom Tische entfernen mul?te.
Die Kunst des Arztes scheiterte, denn nicht
das dringendste, liebevollste Flehen des Grafen,
nichts in der Welt konnte die Gräfin vermö-
gen, auch nur einen Tropfen Medizin zu neh-
men. Da nun Wochen, Monate vergangen, ohne
dal? die Gräfin auch nur einen Bissen genossen,
da es ein unergründliches Geheimnis, wie sie
ihr Lehen zu fristen vermochte, so meinte der
Arzt, dal? hier etwas im Spiele sei, was aul?er
dem Bereich jeder getreu menschlichen Wissen-
schaft liege. Er verfiel? das Schlol? unter irgend-
einem Vorwände, der Graf konnte aber wohl

merken, dal? der Zustand der Gattin dem be-
währten Arzt zu rätselhaft, ja zu unheimlich
bedünkt, um länger zu harren und Zeuge einer
unergründlichen Krankheit zu sein, ohne Macht
zu helfen. Man kann es sich denken, in welche
Stimmung dies alles den Grafen versetzen
mul?te; aher es war dem noch nicht genug. —
Gerade um diese Zeit nahm ein alter, treuer
Diener die Gelegenheit wahr, dem Grafen, als
er ihn gerade allein fand, zu entdecken, daß
die Gräfin jede Nacht das Schloß verlasse
und erst beim Anbruch des Tages wiederkehre.
Eiskalt erfaßte es den Grafen. Nun erst dachte
er daran, wie ihn seit einiger Zeit jedesmal zur
Mitternacht ein ganz unnatürlicher Schlaf
überfallen, den er jetzt irgendeinem narkoti-
schen Mittel zuschrieb, das die Gräfin ihm
beibringe, um das Schlafzimmer, das sie, vor-
nehmer Sitte entgegen, mit «dem Gemahl teilte.

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