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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Zweites Heft (Moden und Masken)
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0041
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Eine Novelle des Fürsten W. Odojewskij. (Mit drei Zeichnungen von Otto Linnekogel.)

Der Herbststurm heulte: das Wasser im
Strom bedrohte bereits die Ufer; die
Laternen auf den breiten Straßen schwankten
hin und her und warfen lange und gleitende
Schatten ; und manchmal war es, als stiegen die
dunklen Dächer, die Basreliefs und die Fenster
in die Höhe, dann aber wieder schien es, sie
sänken in eine Tiefe. Die Stadt war noch voll
Bewegung: auf den Fußsteigen drängten sich
die Passanten; die verspäteten schönen Damen
verhüllten, als geschähe es des Sturmes wegen,
ihre Gesichter, bald wieder jedoch schlugen
sie die Schleier zurück, und scheinbar aus dem
gleichen Grunde, und wendeten sieh und blie-
ben stehen; eine Schar von jungen Leuten ver-
folgte sie und dankte lachend dem Winde für
seine Unhöflichkeit; würdige Männer ver-
urteilten bald die einen und bald die anderen
und setzten nicht ohne Bedauern, daß es für
sie unschicklich war, das gleiche zu tun, ihren
"Weg fort; Räder lärmten bald schnell, bald
langsam über das Pflaster; in der Luft hingen
die vielen Geräusche der Straße, und aus all
diesen einzelnen und verschiedenartigen Be-
wegungen entstand dennoch ein gemeinsames
Etwas, das wie der Atem, der Lebensatem des
sonderbarenUngetümes aus Steinquadern war,
dieses Ungetümes mit dem Namen: eine be-
völkerte Stadt. Der Himmel aber war still.

drohend und unbeweglich, und vergeblich er-
wartete er einen Blick, der zu ihm auf geschla-
gen würde.
Wie ein Wirbel brauste von der schwim-
menden Brücke, die gerade von einer W^oge
in die Höhe gehoben wurde, eine reiche und
prunkvolle Equipage, die im Grunde genommen
wie alle anderen aussah, und die dennoch etwa
an sich hatte, das die Vorübergehenden stehen
bleiben und einander zuraunen hieß: „Gewiß
sind das Neuvermählte!“ und sie zwang, dem
Wa gen noch lange mit einer törichten Freude
nachzugaffen.
Eine junge Frau saß in dem ^Vagen; ein
schimmerndes Band zog sich durch ihre
schwarzen Locken, hier und da von zarten
Rosenknospen unterbrochen; sie trug einen
hellblauen Sammetmantel, und über dem Ge-
sicht der jungen Schönen wogte, der dunklen
Haft entsprungen, eine breite Spitze, die wie
einer jener luftigen Vorhänge war, mit denen
Maler die Porträte ihrer reizenden Verführe-
rinnen zu schattieren lieben.
Neben ihr saß ein Mann von mittleren
Jahren; sein Gesicht war eines von denen, die
weder durch körperliche Häßlichkeit noch
durch seelische Schönheit berühren, eines jener
Gesichter, die keinen anziehen und niemand
abstoßen. Es würde Sie nicht beleidigen, die-
 
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