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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Zweites Heft (Moden und Masken)
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0043
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E. Wre / Die Modistin.

selbstlose Liebe des Jünglings und jene Re-
gungen, die von ibr auferweckt wurden . . .
Die Schöne nannte des Jünglings Leidenschaft
nur einen Trieb der Einbildung, sein zer-
quältes Leiden — eine vorübergehende Geistes-
krankheit und das Flehen seiner Blicke — die
poetische Laune der Modeströmung. Alles fiel
der Verachtung anheim, alles wurde vergessen.
Die Schöne trieb ihn durch alle Schmerzen
der gekränkten Liebe, der betrogenen Hoff-
nung und des verletzten Selbstgefühles.
Und all das, was wir hier mit vielen Wor-
ten geschildert, in einem Augenblick fegte es
durch das Herz der Schönen, als sie den Leich-
nam gewahr wurde; und wie entsetzlich er-
schien ihr der Tod des Jünglings — aber nicht
der Tod seines Körpers, nein! die Züge seines
verzerrten Gesichtes sprachen eine furcht-
bare Erzählung von einem andern Tode. Wer

weil? es, was mit dem Jüngling geschah, als in
der Kälte der Qual die Saiten auf dem harmo-
nischen Instrument seiner Seele eine nach der
anderen erstarrend rissen; als er von ungeleb-
tem Leben zu Tode gepeinigt erschöpft zu-
sammenbrach; als seine Seele in vergeblichem
Kampf erschlaffte, und endlich erniedrigt, aber
noch nicht überzeugt, sogar den Zweifel, die-
sen letzten heiligen Funken eines sterbenden
Geistes, mit Hohngelächter von sich wies?
Leicht möglich, dal? sie aus den Tiefen der
Hölle alle Erfindungen des Lasters herauf-
beschwor, leicht möglich, dal? die Süßigkeit
der Hinterlist von ihr Besitz ergriff, die Wol-
lust der Rache, die Vorteile der offenbaren
und schamlosen Gemeinheit; leicht möglich,
daß der Jüngling, nachdem sein Herz sich im
Gebet verzehrt hatte, daß er alles, was gut im
Leben ist, verfluchte! Leicht möglich, daß all

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