Der Orchideengarten
Phantastische Blätter
Herausgeber Karl Hans Strobl
Dritter Jahrgang
Schriftleiter Alf von Czibulka
Drittes Heft
DER SCHWARZE SCHLEIER
Von Charles Dictens. Aus dem Englischen übersetzt von Mina C o nr a d - E y h es f el d.
(Mit 2 Zeichnungen von Karl Ritter.)
i einem Winterabend, ge-
gen Ende des Jahres 1800
oder des vorhergehenden,
saß ein junger, erst seit kur-
zem etablierter Arzt in sei-
nem kleinen Ordinations-
zimmer vor einem prasseln-
den Feuer und lauschte dem Sturm, der den
Regen gegen die Scheiben trieb und unheim-
lich im Kamin heulte.
Die Nacht war feucht und kalt. Er war den
ganzen Tag durch Regen und Kot gegangen und
ruhte j‘etzt, in Schlafrock und Pantoffeln, etwas
mehr wie halb eingeschlafen, etwas weniger wie
halbwach und lief? ungezählte Gedanken durch
seine Phantasie schweifen. Zuerst sagte er sich,
dal? der Sturm wohl sehr stark sei, und dal?
der Regen sein Gesicht peitschen würde, wenn
er nicht behaglich in seinem Heim säl?e. Dann
beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Be-
such, den er alljährlich zu Weihnachten sei-
nem Geburtsort und seinen besten Freunden
abstattete; er dachte, dal? sie sich wohl alle
sehr freuen würden, ihn zu sehen, und dal?
Fräulein Rose entzückt sein würde über die
Nachricht, dal? er endlich seinen ersten Pa-
tienten gefunden und sogar die Aussicht habe,
weitere zu finden. Vielleicht würde sie end-
lich einwilligen, die Reise nach London mit
ihm zu machen, um ihn zu heiraten und sein
jetzt so trauriges Heim mit ihm zu teilen und
zu erheitern. Dann fragte er sich, wann dieser
erste, so sehnsüchtig erwartete Patient endlich
erscheinen würde, oder ob er durch eine be-
sondere Absicht der Vorsehung dazu ver-
urteilt sei, überhaupt nie einen Patienten zu
haben; dann dachte er wieder an Rose und
schlief ein und träumte von ihr, bis die so
holde und fröhliche Stimme des jungen Mäd-
chens an sein Ohr schlug und ihre kleine, zarte
Hand seine Schulter berührte.
In der Tat berührte eine Hand seine Schulter,
aber sie war weder klein noch zart noch
sanft; sie gehörte einem derben Burschen mit
rundem Kopf, der um einen Schilling pro
Woche und die Kost für die Gemeinde, der
er zur Last lag, Medikamente trug und Be-
sorgungen machte. Da in der Gemeinde aber
kein großer Bedarf für Medikamente und Be-
sorgungen war, verbrachte er seine Muße-
stunden, gewöhnlich vierzehn im Tag, indem
er Pfefferminzpastillen lutschte, festere Nah-
rung verzehrte und schlief.
„Eine Dame, mein Herr, eine Dame“, sagte
der Bursche ganz leise, indem er seinen Herrn
schüttelte.
„Welche Dame?“ rief der Arzt und sprang
auf, in der Meinung, sein Traum sei Wirk-
lichkeit geworden und Fräulein Rose würde
jeden Augenblick erscheinen. „WelcheDame?
Wo?“
„Da, mein Herr“, antwortete der Bursche
und zeigte auf die Glastüre, die zum Labo-
ratorium führte, wobei sich auf seinem Ge-
sicht das Erstaunen ausprägte, das die völlig
i
Phantastische Blätter
Herausgeber Karl Hans Strobl
Dritter Jahrgang
Schriftleiter Alf von Czibulka
Drittes Heft
DER SCHWARZE SCHLEIER
Von Charles Dictens. Aus dem Englischen übersetzt von Mina C o nr a d - E y h es f el d.
(Mit 2 Zeichnungen von Karl Ritter.)
i einem Winterabend, ge-
gen Ende des Jahres 1800
oder des vorhergehenden,
saß ein junger, erst seit kur-
zem etablierter Arzt in sei-
nem kleinen Ordinations-
zimmer vor einem prasseln-
den Feuer und lauschte dem Sturm, der den
Regen gegen die Scheiben trieb und unheim-
lich im Kamin heulte.
Die Nacht war feucht und kalt. Er war den
ganzen Tag durch Regen und Kot gegangen und
ruhte j‘etzt, in Schlafrock und Pantoffeln, etwas
mehr wie halb eingeschlafen, etwas weniger wie
halbwach und lief? ungezählte Gedanken durch
seine Phantasie schweifen. Zuerst sagte er sich,
dal? der Sturm wohl sehr stark sei, und dal?
der Regen sein Gesicht peitschen würde, wenn
er nicht behaglich in seinem Heim säl?e. Dann
beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Be-
such, den er alljährlich zu Weihnachten sei-
nem Geburtsort und seinen besten Freunden
abstattete; er dachte, dal? sie sich wohl alle
sehr freuen würden, ihn zu sehen, und dal?
Fräulein Rose entzückt sein würde über die
Nachricht, dal? er endlich seinen ersten Pa-
tienten gefunden und sogar die Aussicht habe,
weitere zu finden. Vielleicht würde sie end-
lich einwilligen, die Reise nach London mit
ihm zu machen, um ihn zu heiraten und sein
jetzt so trauriges Heim mit ihm zu teilen und
zu erheitern. Dann fragte er sich, wann dieser
erste, so sehnsüchtig erwartete Patient endlich
erscheinen würde, oder ob er durch eine be-
sondere Absicht der Vorsehung dazu ver-
urteilt sei, überhaupt nie einen Patienten zu
haben; dann dachte er wieder an Rose und
schlief ein und träumte von ihr, bis die so
holde und fröhliche Stimme des jungen Mäd-
chens an sein Ohr schlug und ihre kleine, zarte
Hand seine Schulter berührte.
In der Tat berührte eine Hand seine Schulter,
aber sie war weder klein noch zart noch
sanft; sie gehörte einem derben Burschen mit
rundem Kopf, der um einen Schilling pro
Woche und die Kost für die Gemeinde, der
er zur Last lag, Medikamente trug und Be-
sorgungen machte. Da in der Gemeinde aber
kein großer Bedarf für Medikamente und Be-
sorgungen war, verbrachte er seine Muße-
stunden, gewöhnlich vierzehn im Tag, indem
er Pfefferminzpastillen lutschte, festere Nah-
rung verzehrte und schlief.
„Eine Dame, mein Herr, eine Dame“, sagte
der Bursche ganz leise, indem er seinen Herrn
schüttelte.
„Welche Dame?“ rief der Arzt und sprang
auf, in der Meinung, sein Traum sei Wirk-
lichkeit geworden und Fräulein Rose würde
jeden Augenblick erscheinen. „WelcheDame?
Wo?“
„Da, mein Herr“, antwortete der Bursche
und zeigte auf die Glastüre, die zum Labo-
ratorium führte, wobei sich auf seinem Ge-
sicht das Erstaunen ausprägte, das die völlig
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