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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0066
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A

Von Voltaire. Übertragen von Alf von Czibulka. (Mit vier Zeichnungen von Otto Linnekogel.)


?s ist dies ein gänzlich verfehlter
Grundsatz, zu behaupten, dal? es
inicht erlaubt sei, ein kleines Un-
recht zu begehen, aus dem eine
gute Tat entstehen kann. Der
heilige Augustin war durch-
aus dieser Anschauung, wie sich leicht aus
der Erzählung folgender kleiner Begebenheit
ersehen läl?t, die sich unter dem Prokonsul
Septimus Acindynus zugetragen hat, und über
die er in dem Buche „Von der Stadt Gottes'
berichtet.
Zu Hippo lebte ein alter geistlicher Herr,
der viele Brüderschaften gegründet hatte,
Beichtvater aller jungen Mädchen seines
Sprengels war, und der für einen von Gott
erleuchteten Mann galt, da er auch prophezeite,
welches Geschäft er leidlich verstand.
Eines Tages brachte man ein junges Mäd-
chen zu ihm, das Cosi Sancta genannt wurde.
Sie war das schönste Frauenzimmer der ganzen
Provinz. Vater und Mutter waren Jansenisten
und hatten sie in den Grundsätzen strengster
Tugend erzogen. Und von allen ihren An-
betern hatte auch nicht einer sie von ihren Ge-
beten abgelenkt. Sie war vor wenigen Tagen
einem kleinen, verwitterten Männlein namens
Capito verlobt worden, der Rat des Obersten
Gerichtshofes von Hippo war. Er war ein
brummiger, mieseisüchtiger Mann, dem es wohl
nicht an Geist fehlte, der aber bissig im Ge-
spräch, ein Spötter und ein ungefälliger Pa-
tron war. Im übrigen war er eifersüchtig wie
ein Venetianer und hätte sich um keinen Preis
der Welt damit einverstanden erklärt, gute
Freundschaft mit den Liebhabern seiner Frau
zu halten. Das junge Geschöpf tat alles, um
sich in ihn zu verlieben, da er ja schliel?lich
ihr Mann werden sollte. Sie ging mit den
besten Vorsätzen daran und dennoch gelang
es ihr keineswegs.
So machte sie sich auf, um ihren Pfarrer zu
fragen, ob ihre Ehe glücklich sein werde. Und
der gute Mann sagte ihr im Brustton des
Propheten: „Meine Tochter! Deine Tugend
wird viel Unheil stiften, aber eines Tages wirst
du dafür heiliggesprochen werden, dal? du

deinem Gatten dreimal die Ehe gebrochen
hast.“
D as schöne Mädchen war in ihrer Unschuld
über diesen Orakelspruch sehr erstaunt und
verlegen. Sie weinte und wollte eine Er-
klärung wissen, weil sie meinte, dal? diese
V/orte irgendeinen geheimnisvollen Sinn ver-
wahrten. Allein alle Aufklärung, die ihr zuteil
wurde, war die, dal? die dreimal sich nicht bei
drei Zusammenkünften mit demselben Lieb-
haber, sondern bei drei verschiedenen Aben-
teuern ereignen würden.
Da begann Cosi Sancta zu schreien, stiel?
sogar Verwünschungen gegen den Pfarrer aus
und schwur Stein und Bein, dal? sie niemals
heilig werden würde. Sie wurde es aber den-
noch, wie man gleich sehen wird.
Kurze Zeit darauf heiratete sie. Die Hoch-
zeit war äußerst vornehm. Sie ertrug das üble
Geschwätz, das sie anhören mußte, ebenso
leidlich alle faden Redensarten und alle
schlecht versteckten Derbheiten, mit denen die
Leute gewöhnlich das Schamgefühl der Neu-
vermählten zu verletzen suchen. Sie tanzte in
großer Anmut mit einer Reihe gutgewachsener
und hübscher junger Männer, die ihr Mann
greulich fand. Dann legte sie sich ein wenig
widerwillig mit dem kleinen Capito zu Bett,
schlief den größten Teil der Nacht und
erwachte recht verträumt. Der Gegenstand
ihrer Träumereien war aber weniger ihr
Mann als ein junger Mann namens Ribaldo,
der sich in ihren Gedanken festgesetzt hatte,
ohne daß sie recht wußte wie. Dieser Jüng-
ling schien von Amors Händen geformt zu sein.
Er war anmutig, kühn und schlau. Freilich
war er ein wenig indiskret, aber nur bei jenen
Frauen, die das liebten. Er war in Hippo
Hahn im Korbe, hatte alle Frauen der Stadt
gegeneinander aufgehetzt und war mit allen
Gatten und Müttern zerzankt. Für gewöhnlich
liebte er aus Zerstreuung und ein wenig
auch aus Eitelkeit. Cosi Sancta aber liebte er
aus Geschmack, und er liebte sie um so mehr,
als ihre Eroberung schwierig schien.
Als geschickter Mann suchte er vorerst dem
Gatten zu gefallen. Er machte ihm tausend

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