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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Viertes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0079
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Der Orchideengarten
Phantastische Blätter

Herausgeber Karl Haus Strobl

Dritter Jahrgang


Schriftleiter Alf von Czibulka
Viertes Heft

DIE ERZÄHLUNG DES FÜRSTEN NIGLINSKY
Au9 dem Buche ,,Spuk“, Wiener Graphische Werkstätte. Von Dr. Herbert Barher.
(Mit vier Zeichnungen von Richard Klein)

ir hatten stundenlang über
Geistersehen, Halluzinatio-
nen und ähnliches geplau-
dert. Fürst Niglinsky, ein
ehrwürdiger Greis, der sich
an der Unterhaltung fast gar
nicht beteiligt hatte, lehnte sich jetzt in seinem
Stuhl zurück und erzählte folgende Geschichte:
Ich besaß einst einige ZehnerWerst von Mos-
kau entfernt ein Gut. Obwohl ich mich ziemlich
häufig in der Kremlstadt aufhielt, nahm ich
mir dennoch nie Zeit und Mühe, dieseBesitzung
zu besuchen. Ein alter Verwalter, Fedor Tu-
dowich Ranin mit Namen, den ich bei der
Erwerbung der Domäne mit übernommen hatte,
erstattete mir von Zeit zu Zeit schriftlich Bericht
über Betrieb, Einnahmen und Ausgaben, Per-
sonalwechsel und sonstige Neuigkeiten.
Eines Tages kamen mir von dritter Seite
höchst unerfreuliche Dinge über mein Gut und
seinen Verwalter zu Ohren. Ranin, meldete
man mir,sei ein notorisch er Lügner und pflicht-
vergessener Schuft, der die Erträgnisse der
ÄVirtschaft vertrinke und verspiele, mir zwei-
fellos Potemkinsche Dörfer vormache und mein
Anwesen langsam aber sicher zugrunde gehen
lasse. —
Statt sogleich hinzufahren und die Dinge an
Ort und Stelle zu untersuchen, lief? ich es mir
genügen, umgehend ein Schreiben an Ranin
abzusenden, in dem ich ihn um sofortige, rest-
lose Aufklärung und genauen Rechenschafts-
bericht anging. Nach einigen Tagen kam seine

Antwort. Sie war ausweichend, unklar, ver-
logen. Ich geriet in Wut. Ein zweiter Brief
folgte, schärfer und drohender als der erste.
Ich entbot Ranin für die nächste Woche, mit
Büchern und sonstigem Beweismaterial aus-
gerüstet, persönlich zu mir nach Moskau. Wer
nicht kam, war er. Dafür überraschte er mich
seinerseits wieder mit einem Schreiben. Es
war in leidenschaftlicherem Tone gehalten als
das erste, strotzte aber ebenso wie jenes von
Lügen, Beschönigungen und dummdreistenVer-
tröstungen. Trotz meiner Empörung wollte ich
die Sache noch nicht auf das Äußerste treiben.
Ich wartete noch einige Tage, ließ meinen Groll
abklingen und schrieb dann zum dritten Male.
Dieser Brief kam einem Ultimatum gleich. Ein
Ausweichen auf meine Forderungen, eine
Mißachtung meiner Befehle hielt ich diesmal
für vollkommen unmöglich. Doch ÄVochen
vergingen. —
Ranin kam nicht. Ranin schrieb nicht. End-
lich, Ende November, erfolgte die Antwort.
Sie enthielt wieder nichts als Ausflüchte und
flehentliche Bitten,mich zu gedulden,Vertrauen
zu haben, keine voreiligen Schritte zu unter-
nehmen, einen alten, kranken Mann nicht
leichtsinnig ins Verderben, in den Tod zu
stürzen usw. —
Jedes Wort war eine aufgelegte Heuchelei.
Ich raste. Das war mir denn doch zu viel. —
Ranin mußte zerschmettert werden. Da mein
Aufenthalt im Schlosse unbedingt notwendige
Vorbereitungen erheischte, telegraphierte ich


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