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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Viertes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0083
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Nach einer Weile torkelte Wassil ins
Zimmer. Er mußte aus tiefem Schlafe geweckt
worden sein. Schwer wie ein Sack fiel er auf
eine Bank, wälzte sich einmal herum und
schnarchte.
Ich saß eine V?eile in der Dunkelheit, den
Kopf in die Hände gestützt, regungslos, lang-
sam auftauend und zu neuem Leben erwachend.
Eine Viertelstunde mochte verronnen sein.
W'assils Atemzüge wurden ruhiger, wurden
unhörbar. Stille, lautlose Stille um mich.
Da — plötzlich — stellen Sie sich meine
bange Überraschung vor — höre ich ein Ge-
räusch im Hintergrund des Raumes. Und dann
ein Stöhnen. Das Stöhnen geht in ein Ächzen
über. Etwas knarrt. Dann Stille. Aber nach
einigen Sekunden beginnt es wieder, lauter,
furchtbarer. Gurgelnde Laute folgen einander
in kurzen Abständen.
Grauen erfaßt mich nun, das Blut droht mir
wieder zu erstarren; alle Kälte, die von mir
wich, überfällt mich von neuem. Ich starre
in die Richtung, krampfhaft bemüht, die Dun-
kelheit zu durchdringen und etwas zu sehen —
vergeblich. Plötzlich höre ich —Worte. Also
ein Mensch! — durchfährt es mich. — Er hat
sich nicht gerührt — hat geschlafen — oder
gelauert.-— Warum hat dieser Lumpen-
knecht mir nichts davon gesagt? Und ich
lausche gespannt.
Ja — Worte — hervorgelallt — nicht zu
verstehen — in schneller Aufeinanderfolge
drohende, rasende Worte — nur unterbrochen
von jenem entsetzlichen Stöhnen und Keuchen.
Wird ein Trunkenhold sein, versuche ich mich
zu trösten. Aber meine Angst wächst. „Licht!“
möchte ich rufen, doch ich presse die vibrie-
renden Lippen nur fester aufeinander. — Und
lausche, lausche — bis ich
endlich die Worte zu ver-
stehen vermag: „Dreimal“
— höre ich — „dreimal
aufhalten wollen—ver-
geblich — — er kommt
heran — — durch den
Schnee-die Abrech-
nung — diePeitsche — o
weh, die Peitsche... —
verfluchter Herr — —
verfluchter Herr-!!“
Dann Schweigen. Nur das

gräßliche Stöhnen hört nicht auf, erhebt sich
lauter und höher, wird verzweifelter und ent-
setzlicher.
Jetzt — ein Schlag — ein Krachen . . .
„Licht!“ schreie ich, dem Ersticken nahe,
„Licht!“ Die Gedanken tanzen durch mein
Hirn. Ich werde verrückt, durchzuckt es
mich. Nein, nein — da kommt ja gottlob der
Kerl mit der Lampe — Licht — Klarheit —
endlich — — !
Die Lampe steht auf dem Tisch. Der Knecht
schraubt sie höher. Er sagt irgend etwas. Aber
ich höre ihm nicht zu. „Dort,“ murmle ich,
„sprich, was ist dort!?“ —
Und ich erhebe mich mit Anspannung mei-
ner letzten Kräfte — erfasse die Lampe —
mache einige Schritte —, und da sehe ich im
Schimmer des Lichtes, der über dem Hinter-
grund des Raumes zittert, einen alten Mann
auf einer Bank, schief nach rückwärts ge-
worfen gegen die Lehne, regungslos, mit töd-
lich bleichem, verzerrtem Gesicht, weitauf-
gerissenen Augen, geöffnetem Mund, aus dem
zwei scheußliche, hauerartige Schneidezähne
hervorstehen, mit weißem, verwildertem Haar;
— und ich sehe, langsam näherschlürfend, noch
etwas in diesem Gesicht —: ich sehe, daß sich
über die Augen und über die rechte Wange
bis hinab zum geöffneten Mund etwas Dunkles,
Gräßliches hinzieht . . .
„Ranin!“ schreie ich gellend. —
Eine Weile stehe ich gelähmt, gebannt. Der
Knecht sagt, beteuert etwas. Er tritt zu dem
Regungslosen und betastet ihn. — Dann höre
ich, wie er mit dünner, überschnappender
Stimme jammert: „Christus! Christus! Er
ist ja tot-, Euer Wohlgeboren, er ist
ja tot!“ Die Lampe entfällt meinen Händen.
Alles verschwindet rundum.
Tiefe Nacht umfängt mich.
Drei Wochen lag ich schwer
krank in einem Zimmer der
Schenke darnieder. Immer
wieder hörte und wiederholte
ich dieWWteRanins, sah ich
sein Gesicht mit der häß-
lichen Wunde. ^Vassil pflegte
seinen Herrn mit aufopfern-
der Treue. Man versuchte
mich mit allen Mitteln, zu


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