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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Sechstes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0127
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Der Orchideengarten
Phantastische Blätter
n Czibulka

Sechstes Heft

Herausgeber Karl Hans Strobl

Dritter Jahrgang


Schriftleiter A1 f v o

INES DE LAS SIERRAS

Ein Roman von Charles Nodier1. Überträgen von Alf Freiherrn von Czibulka. Illustriert von Otto Linnekogel.
(Alle Rechte Vorbehalten.)


nd du/1 fragte Anastasius, „er-
zählst du uns am Ende auch
eine Geistergeschichte ?“
„D as könnte ich wohl,“ ent-
gegnete ich, „denn ich war
Zeuge der merkwürdigsten
Geistererscheinung, die sich
wohl seit Samuel begeben hat. Aber es ist gar
keine richtige Gespenstergeschichte, sondern
ein wahrhaftiges Erlebnis.“
Der Herr Substitut biß sich auf die Lippen
und knurrte: „Nun schön. — Aber gibt es
eigentlich heute noch einen Menschen, der an
Gespenster glaubt?“
„Mein lieber Herr Substitut,“ antwortete ich,
„Sie wären wohl ebenso gläubig gewesen wieich,
wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären.“ —
Eudoxia rückte ihren Lehnstuhl neben den
meinen, und ich begann zu erzählen:

„Es war in den letztenTagen des Jahres 1812.
Ich war damals Rittmeister bei den Dragonern,
die in Gerona, im Departement Ter lagen.
Mein Oberst hatte sich entschlossen, mich
zum Remontieren nach Barcelona zu schicken,
wo alljährlich am zweiten Weihnachtsfeier-
tage der in ganz Katalonien berühmte Pferde-
markt abgehalten wurde. Für diesen Dienst
hatte er mir zwei Leutnants des Regimentes
zugeteilt, Sergy und Boutraix mit Namen, die
meine persönlichen Freunde waren. Sie müssen
mir schon erlauben, dal? wir uns ganz kurz mit
jedem der beiden beschäftigen, da die Einzel-
heiten ihrer Charaktere, über die ich Ihnen

berichten werde, für meine Erzählung nicht
unwichtig sind.
Sergy war einer jener jungen Offiziere, die
geradeswegs von der Militärakademie zu
uns kamen, und die allerlei Vorurteile, ja selbst
gewisse Antipathien bekämpfen mußten, ehe sie
bei ihren älteren Kameraden beliebt wurden.
Alle solche ^Vidrigkeiten hatte er in kurzer
Zeit überwunden. Er hatte eine entzückende
Figur, tadellose Manieren, sein Geist war leb-
haft und sprühend, und sein Mut über alle
Zweifel erhaben. Es gab keine Leibesübung, in
der er sich nicht ausgezeichnet hätte, und ob-
gleich er, infolge seiner zarten und ein wenig
sensiblen Veranlagung, besondere Vorliebe für
Musik zeigte, so gab es dennoch keine Kunst, für
die er nicht Geschmack und tiefes Verständnis
besessen hätte. Ein Musikinstrument, das unter
geübten Händen jubelte, oder gar eine schöne
Stimme, konnten ihn hinreißen, daß seine Be-
geisterung sich oft in Ausrufen und Tränen
offenbarte. War es gar die Stimme einer schö-
nen Frau, so konnte sich seine Ergriffenheit zur
Verzückung steigern. — Nach dem, was ich
Ihnen erzählt habe, werden Sie ohne weiteres
verstehen, daß das Herz Sergys sich nur allzu
leicht verliebte. Und es gab in der Tat kaum eine
Zeit, in der er von einer jener starken Leiden-
schaften frei gewesen wäre, von denen das Leben
der Männer abzuhängen scheint. Aber die so
glückliche Feinheit seines Gefühlslebens be-
wahrte ihn vor Ausschweifungen. Was diesem
Feuergeist fehlte, war eine glühende Seele
gleich der seinen, mit der er sich verbinden

1 Charles Nodier
sitzende jener Pariser

war der eigentliche Begründer der französischen Romantik und vor
Dichterabende, die unter dem Namen „le cenacle“ berühmt wurden.

Viktor Hugo der Vor-

I
 
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