Der Orchideengarten
Phantastische Blätter
Herausgeber Karl Hans Strob 1
Dritter Jahrgang
Schriftleiter Alf von Czibulka
Siebentes Heft
MÄRCHEN VON EINEM, DER AUSZOG, DAS
FÜRCHTEN ZU LERNEN
Aus der Grimmsche» Sammlung. (Mit sechs Zeichnungen von Karl Ritter.)
in Vater hatte zwei Söhne,
davon war der älteste klug
und gescheit und wul?te sich
in alles wohl zu schicken,
der jüngste aber war dumm,
konnte nichts begreifen und
lernen, und wenn ihn die
Leute sahen, sprachen sie:
„Mit dem wird der Vater
noch seine Last haben'!“ ÄVenn nun etwas zu
tun war, so mußte es der älteste allzeit aus-
richten; hieß ihn aber ;der Vater noch spät
oder gar in der Nacht etwas holen, und der
Weg ging dabei über den Kirchof oder sonst
einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl:
„Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es
gruselt mir!“ denn er fürchtete sich. Oder,
wenn abends heim Feuer Geschichten erzählt
wurden, wobei einem die Haut schaudert, so
sprachen die Zuhörer manchmal: „Ach, es gru-
selt mir!“ Der jüngste saß in einer Ecke und
hörte das mit an, und konnte nicht begreifen,
was es heißen sollte. „Immer sagen sie: Es
gruselt mir! Es gruselt mir! — mir gruselts
nicht; das wird wohl eine Kunst sein, von
der ich auch nichts verstehe.“
Nun geschah es, dal? der Vater einmal zu
ihm sprach: „Hör’ du, in der Ecke dort, du
wirst grof? und stark, du mul?t auch etwas
lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst
du, wie dein Bruder sich Mühe gibt, aber an
dir ist Hopfen und Malz verloren.“ — „Ei,
Vater, antwortete er, „ich will gerne was
lernen; ja, wenn’s anginge, so möchte ich ler-
nen, dal? mir’s gruselte; davon verstehe ich
noch gar nichts.“ — Der älteste lachte, als er
das hörte, und dachte hei sich: Du lieber
Gott, was ist mein Bruder für ein Dummbart,
aus dem wird sein Lebtag nichts; was ein
Häkchen werden will, mul? sich beizeiten
krümmen. Der Vater seufzte und antwortete
ihm: „Das Gruseln, das sollst du schon lernen,
aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen.“
Bald danach kam der Küster zum Besuch
ins Haus; da klagte ihm der Vater seine Not
und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen
Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wül?te
nichts und lernte nichts. „Denkt Euch, als ich
ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte,
hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.“ —
„Wenn’s weiter nichts ist,“ antwortete der
Küster, „das kann er bei mir lernen; tut ihn
nur zu mir, ich werde ihn schon abhobeln.“
Der Vater war es zufrieden, weil er dachte:
„Der Junge wird doch ein wenig zugestutzt.“
Der Küster nahm ihn also ins Haus, und er
mul?te die Glocke läuten. Nach ein paar Tagen
weckte er ihn um Mitternacht, hiel? ihn auf-
stehen, in den Kirchturm steigen und läuten.
„Du sollst schon lernen, was Gruseln ist,
dachte er, ging heimlich voraus, und als der
Junge oben war, und sich umdrehte und das
Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der
Treppe, dem Schalloch gegenüber, eine weii?e
Gestalt stehen. „Wer da?“ rief er, aber die
Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte
sich nicht. „Gib Antwort,“ rief der Junge,
„oder mache, dal? du fortkommst, du hast hier
i
Phantastische Blätter
Herausgeber Karl Hans Strob 1
Dritter Jahrgang
Schriftleiter Alf von Czibulka
Siebentes Heft
MÄRCHEN VON EINEM, DER AUSZOG, DAS
FÜRCHTEN ZU LERNEN
Aus der Grimmsche» Sammlung. (Mit sechs Zeichnungen von Karl Ritter.)
in Vater hatte zwei Söhne,
davon war der älteste klug
und gescheit und wul?te sich
in alles wohl zu schicken,
der jüngste aber war dumm,
konnte nichts begreifen und
lernen, und wenn ihn die
Leute sahen, sprachen sie:
„Mit dem wird der Vater
noch seine Last haben'!“ ÄVenn nun etwas zu
tun war, so mußte es der älteste allzeit aus-
richten; hieß ihn aber ;der Vater noch spät
oder gar in der Nacht etwas holen, und der
Weg ging dabei über den Kirchof oder sonst
einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl:
„Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es
gruselt mir!“ denn er fürchtete sich. Oder,
wenn abends heim Feuer Geschichten erzählt
wurden, wobei einem die Haut schaudert, so
sprachen die Zuhörer manchmal: „Ach, es gru-
selt mir!“ Der jüngste saß in einer Ecke und
hörte das mit an, und konnte nicht begreifen,
was es heißen sollte. „Immer sagen sie: Es
gruselt mir! Es gruselt mir! — mir gruselts
nicht; das wird wohl eine Kunst sein, von
der ich auch nichts verstehe.“
Nun geschah es, dal? der Vater einmal zu
ihm sprach: „Hör’ du, in der Ecke dort, du
wirst grof? und stark, du mul?t auch etwas
lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst
du, wie dein Bruder sich Mühe gibt, aber an
dir ist Hopfen und Malz verloren.“ — „Ei,
Vater, antwortete er, „ich will gerne was
lernen; ja, wenn’s anginge, so möchte ich ler-
nen, dal? mir’s gruselte; davon verstehe ich
noch gar nichts.“ — Der älteste lachte, als er
das hörte, und dachte hei sich: Du lieber
Gott, was ist mein Bruder für ein Dummbart,
aus dem wird sein Lebtag nichts; was ein
Häkchen werden will, mul? sich beizeiten
krümmen. Der Vater seufzte und antwortete
ihm: „Das Gruseln, das sollst du schon lernen,
aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen.“
Bald danach kam der Küster zum Besuch
ins Haus; da klagte ihm der Vater seine Not
und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen
Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wül?te
nichts und lernte nichts. „Denkt Euch, als ich
ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte,
hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.“ —
„Wenn’s weiter nichts ist,“ antwortete der
Küster, „das kann er bei mir lernen; tut ihn
nur zu mir, ich werde ihn schon abhobeln.“
Der Vater war es zufrieden, weil er dachte:
„Der Junge wird doch ein wenig zugestutzt.“
Der Küster nahm ihn also ins Haus, und er
mul?te die Glocke läuten. Nach ein paar Tagen
weckte er ihn um Mitternacht, hiel? ihn auf-
stehen, in den Kirchturm steigen und läuten.
„Du sollst schon lernen, was Gruseln ist,
dachte er, ging heimlich voraus, und als der
Junge oben war, und sich umdrehte und das
Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der
Treppe, dem Schalloch gegenüber, eine weii?e
Gestalt stehen. „Wer da?“ rief er, aber die
Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte
sich nicht. „Gib Antwort,“ rief der Junge,
„oder mache, dal? du fortkommst, du hast hier
i