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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Siebentes Heft (Märchen)
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0152
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in der Nacht nichts zu schaffen!“ Der Küster
aber blieb unbeweglich stehen, damit der Junge
glauben sollte, es wäre ein Gespenst. Der
Junge rief zum zweitenmal: „Was willst du
hier? Sprich, wenn du ein ehrlicher Kerl bist,
oder ich werfe dich die Treppe hinab!“ Der
Küster dachte: „Das wird so schlimm nicht
gemeint sein“, gab keinen Laut von sich und
stand, als wenn er von Stein wäre. Da rief
ihn der Junge zum drittenmal an, und als das
auch vergeblich war, nahm er einen Anlauf
und stiel? das Gespenst die Treppe hinab, dal?
es zehn Stufen hinabfiel und in einer Ecke
liegen blieb. Darauf läutete er die Glocke,
ging heim, legte sich, ohne ein Wort zu sagen,
ins Bett und schlief fort. Die Küsterfrau
wartete lange Zeit auf ihren Mann, aber er
wollte nicht wiederkommen. Da ward ihr
endlich angst; sie weckte den Jungen und
fragte: ,/Weißt du nicht, wo mein Mann ge-
blieben ist? Er ist vor dir auf den Turm ge-
stiegen.“ — „Nein,“ antwortete der Junge, „aber
da hat einer dem Schalloch gegenüber auf der
Treppe gestanden, und weil er keine Antwort
geben und auch nicht Weggehen wollte, so
habe ich ihn für einen Spitzbuben gehalten
und hinuntergestoßen. Geht nur hin, so wer-
det Ihr sehen, ob er s gewesen ist; es sollte mir
leid tun.“ Die Frau sprang fort und fand ihren
Mann, der in einer Ecke lag und jammerte,
und ein Bein gebrochen hatte.
Sie trug ihn herab und eilte dann mit lautem
Geschrei zu dem Vater des Jungen. „Euer
Junge“, rief sie, „hat ein großes Unglück an-
gerichtet; meinen Mann hat er die Treppe
hin ab geworfen, daß er ein Bein gebrochen
hat; schafft den Taugenichts aus unserem
Hause!“ Der Vater erschrak, kam herbei-
gelaufen und schalt den Jungen aus. „Was

sind das für gottlose Streiche? Die muß dir
der Böse eingegeben haben!“ — „Vater,“ ant-
wortete er, „hört nur an, ich hin ganz un-
schuldig; er stand da in der Nacht, wie einer,
der Böses im Sinne hat. Ich wußte nicht,
wer's war, und habe ihn dreimal ermahnt zu
reden oder wegzugehen.“ — „Ach,“ sprach der
Vater, „mit dir erleb’ ich nur Unglück; geh
mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr
ansehen.“ — „Ja, Vater, recht gerne, wartet
nur, bis es Tag ist, da will ich ausgehen und
das Gruseln lernen, so versteh ich doch eine
Kunst, die mich ernähren kann.“ — „Lerne,
was du willst,“ sprach der Vater, „mir ist
alles einerlei. Da hast du fünfzig Taler, damit
geh in die weite Welt und sage keinem Men-
schen, wo du her bist und wer dein Vater ist,
denn ich muß mich deiner schämen.“ — „Ja,
Vater, wie Ihr’s haben wollt; wenn Ihr nicht
mehr verlangt, das kann ich leicht in acht be-
halten.“
Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge
seine fünfzig Taler in die Tasche, ging hinaus
auf die große Landstraße und sprach immer
vor sich hin: „Wenn mir nur gruselte! wenn
mir nur gruselte!“ Da kam ein Mann heran,
der hörte das Gespräch, das der Junge mit sich
selber führte, und als sie ein Stück weiter
waren, daß man den Galgen sehen konnte,
sagte der Mann zu ihm: „Siehst du, dort ist
der Baum, wo sieben mit des Seilers Tochter
Hochzeit gehalten haben und j’etzt das Fliegen
lernen; setz' dich darunter und warte, bis die
Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln
lernen.“ — „Wenn weiter nichts dazu gehört,
antwortete der Junge, „das ist leicht getan;
lerne ich aber so geschwind das Gruseln, so
sollst du meine fünfzig Taler haben; komm
nur morgen früh wieder zu mir.“ Da ging der

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