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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Siebentes Heft (Märchen)
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0153
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Junge zum Galgen, setzte sich darunter und
wartete, bis der Abend kam. Und weil ihn
fror, machte er sich ein Feuer an; aber um
Mitternacht ging der Wmd so kalt, dal? er
trotz des Feuers nicht warm werden sollte.
Und als der Wind die Gehenkten gegenein-
ander stiel?, dal? sie sich hin und her beweg-
ten, so dachte er: „Du frierst unten bei dem
Feuer, was mögen die da oben erst frieren
und zappeln.“ Und weil er mitleidig war, legte
er die Leiter an, stieg hinauf, knüpfte einen
nach dem anderen los und holte sie alle sieben
herab. Darauf schürte er das Feuer, blies es
an und setzte sie rings herum, dal? sie sich
wärmen sollten. Aber sie sal?en da und regten
sich nicht und das Feuer ergriff ihre Kleider.
Da sprach er: „Nehmt euch in acht, sonst
häng' ich euch wieder hinauf!“ Die Toten aber
hörten nicht, schwiegen und ließen ihre Lum-
pen fortbrennen. Da ward er bös und sprach:
„Wenn ihr nicht acht geben wollt, so kann
ich euch nicht helfen, ich will nicht mit euch
verbrennen“, und hing sie nach der Reihe
wieder hinauf. Nun setzte er sich zu seinem
Feuer und schlief ein, und am andern Mor-
gen, da kam der Mann zu ihm, wollte die
fünfzig Taler haben und sprach: „Nun, weißt
du, was Gruseln ist?“ — „Nein,“ antwortete
er, „woher sollte ich's wissen? Die da droben
haben das Maul nicht aufgetan und waren so
dumm, daß sie die paar alten Lappen, die sie
am Leibe haben, brennen ließen.“ Da sah der
Mann, daß er die fünfzig Taler heute nicht
davon tragen würde, ging fort und sprach:
„So einer ist mir noch nicht vorgekommen.“
Der Junge ging auch seines Wegs und fing
wieder an, vor sich hinzureden: „Ach, wenn
mir nur gruselte!“ Das hörte ein Fuhrmann,
der hinter ihm herschritt, und fragte: ,AVer

bist du?“ — „Ich weiß nicht“, antwortete der
Junge. — Der Fuhrmann fragte weiter: „Wo
bist du her?“ — „Ich weiß nicht.“ — „Wer ist
dein Vater?“ — „Das darf ich nicht sagen.“ —
„Was brummst du beständig in den Bart hin-
ein?“ — „Ei,“ antwortete der Junge, „ich wollte,
daß mir gruselte, aber niemand kann mir's
lernen.“ — „Laß dein dummes Geschwätz,“
sprach der Fuhrmann, „komm, geh mit mir, ich
will sehen, daß ich dich unterbringe.“ Der
Junge ging mit dem Fuhrmann, und abends
gelangten sie zu einem Wirtshaus, wo sie
übernachten wollten. Da sprach er beim Ein-
tritt in die Stube wieder ganz laut: ,AVenn
mir nur gruselte! wenn mir nur gruselte!“
Der Wirt, der das hörte, lachte und sprach:
„Wenn dich danach lüstet, dazu sollte hier
"wohl Gelegenheit sein.“ — „Ach, schweig
stille!“ sprach die ^Virtsfrau; „so mancher
Vorwitzige hat schon sein Leben eingebüßt;
es wäre Jammer und Schade um die schönen
Augen, wenn die das Tageslicht nicht wieder
sehen sollten.“ Der Junge aber sagte: „Wenns
noch so schwer wäre, ich will’s einmal lernen,
deshalb bin ich ja ausgezogen.“ Er ließ dem
Wirt auch keine Ruhe, bis dieser erzählte,
nicht weit davon stände ein verwünschtes
Schloß, wo einer wohl lernen könnte, was
Gruseln wäre, wenn er nur drei Nächte darin
wachen wollte. Der König hatte dem, der's
wagen wollte, seine Tochter zur Frau ver-
sprochen, und die wäre die schönste Jungfrau,
welche die Sonne beschien; in dem Schlosse
steckten auch große Schätze, von bösen Gei-
stern bewacht, die würden dann frei und
könnten einen Armen reich genug machen.
Schon viele wären wohl hinein-, aber noch
keiner wieder herausgekommen. Da ging der
Junge am andern Morgen vor den König und

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