Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

DOI Heft:
Siebentes Heft (Märchen)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0156
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Wag,“ sagte er, „ist das mein Dank? Gleich
sollst du wieder in deinen Sarg“, hob ihn auf,
warf ihn hinein und machte den Deckel zu;
da kamen die sechs Männer und trugen ihn
wieder fort. Es will mir nicht gruseln, dachte
er; hier lerne ich’s mein Lebtag nicht.
Da trat ein Mann herein, der war größer
als alle anderen und sah fürchterlich aus; er
war aber alt und hatte einen langen weißen
Bart. „O du Wicht,“ rief er, „nun sollst du
bald lernen, was Gruseln ist, denn du sollst
sterben!“ — „Nicht so schnell“, antwortete der
Junge; „soll ich sterben, so muß ich auch da-
bei sein.“ — „Dich will ich schon packen“,
sprach der Unhold. — „Sachte, sachte, mach
dich nicht so breit; so stark wie du bin ich
auch, und wohl noch stärker.“ — „Das wollen
wir sehen“, sprach der Alte; „hist du stärker
als ich, so will ich dich gehen lassen; komm,
wir wollen’s versuchen.“ Da führte er ihn
durch dunkle Gänge zu einem Schmiedefeuer,
nahm eine Axt und schlug den einen Amboß
mit einem Schlag in die Erde. „Das kann ich
noch besser“, sprach der Junge und ging zu
dem andern Amboß. Der Alte stellte sich ne-
ben ihn und wollte zusehen, und sein weißer
Bart hing herab. Da faßte der Junge die Axt,
spaltete den Amboß auf einen Hieb und klemmte
den Bart des Alten mit hinein. „Nün hab ich
dich,“ sprach der Junge, „jetzt ist das Sterben
an dir.“ Dann faßte er eine Eisenstange und
schlug auf den Alten los, bis er wimmerte und
bat, er möchte aufhören, er wollte ihm große
Reichtümer gehen. Der Junge zog die Axt
heraus und ließ ihn los. Der Alte führte ihn
wieder ins Schloß zurück und zeigte ihm in

einem Keller drei Kasten voll Gold. „Davon“,
sprach er, „ist ein Teil den Armen, der andere
dem König, der dritte dein.“ Indem schlug es
zwölf und der Geist verschwand, also daß
der Junge im Finstern stand. „Ich werde mir
doch heraushelfen können“, sprach er, tappte
herum, fand den Weg in die Kammer und
schlief dort bei seinem Feuer ein. Am andern
Morgen kam der König und sagte: „Nun wirst
du gelernt haben, was Gruseln ist?“ — „Nein,“
antwortete er, „was ist's nur? Mein toter
V etter war da, und ein bärtiger Mann ist ge-
kommen, der hat mir da unten viel Geld ge-
zeigt, aber was Gruseln ist, hat mir keiner ge-
sagt.“ Da sprach der König: „Du hast das
Schloß erlöst und sollst meine Tochter hei-
raten.“ — „Das ist alles recht gut,“ antwortete
er, „aber ich weiß noch immer nicht, was
Gruseln ist.“ Da war das Gold herausgebracht
und die Hochzeit gefeiert, aber der junge
König, so lieb er seine Gemahlin hatte und so
vergnügt er war, sagte doch immer: „Wenn
mir nur gruselte! wenn mir nur gruselte!“
Das verdroß sie endlich. Ihr Kammermädchen
sprach: „Ich will Hilfe schaffen, das Gruseln
soll er schon lernen.“ Sie ging hinaus zum
Bach, der durch den Garten floß, und ließ sich
einen ganzen Eimer voll Gründlinge holen.
Nachts, als der junge König schlief, mußte
seine Gemahlin die Decke wegziehen und den
Eimer voll kaltes W'asser mit den Gründlingen
über ihn herschütten, daß die kleinen Fische
um ihn herumzappelten. Da wachte er auf
und rief: „Ach, was gruselt mir, was gruselt
mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gru-
seln ist.“


6
 
Annotationen