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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Siebentes Heft (Märchen)
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0159
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langes, struppiges, verfilztes, rabenschwarzes
Haar, eine grüngelbe Gesichtsfarbe, Augen
wie feurige Kohlen, die immer bin und her
blickten und in beständiger Bewegung waren.
Ehe er zwölf Monat alt war, stand ihm der
Mund schon voll großer Zähne, seine Hände
glichen Katzenkrallen, seine Beine waren nicht
dicker als ein Peitschenstiel und nicht gerader
als eine Sichel. Und was die Sache noch
schlimmer machte, er hatte den Magen von
einem Vielfraß, und sein Mund hörte nicht
auf zu bellen, zu kreischen und zu heulen. Die
Nachbarn schöpften Argwohn, es möchte nicht
ganz richtig mit ihm
sein, besonders als sie
beobachteten, wie er
sich betrug, sobald
von Gott oder ande-
ren frommen Dingen
die Rede war. Wenn
dies, nach der Sitte
des Landes, abends
beim Feuer geschah,
in dessen Nähe die
Mutter gewöhnlich
seine MViege gestellt
hatte, damit der Balg
recht warm liege, so
pflegte er mitten in
diesem Gespräche
sich auf zusetzen und
zu heulen, als ob der
Teufel selbst in ihm
stäke. Sie ratschlag-
ten deshalb einmal
gemeinschaftlich, was mit ihm anzufangen
wäre, und ein altes Weib, von dem bekannt
war, dal? es sich auf das Hexenwesen wohl
verstand, sprach: „Ich will Euch einen sichern
Rat geben, legt die Zange ins Feuer, bis sie
glutrot ist, und packt seine Nase damit; dann
ist er gezwungen zu sagen, wer er ist und wo-
her er kommt, darauf könnt ihr Euch ver-
lassen.“ Denn sie glaubten alle, der Balg sei
von den Elfen vertauscht worden. Aber Judy
hatte ein zu gutes Herz und liebte das Teuf ei-
chen zu sehr, als dal? sie hätte dazu einwilligen
können. Nachdem der eine dies, der andere
jenes vorgeschlagen hatte, sagte zuletzt eines,
man sollte nach dem Geistlichen senden, dal?


er das Kind besehe. Dagegen hatte Judy nichts
einzuwenden, aber immer, wenn sie im Begriff
war, es zu tun, kam etwas dazwischen, und das
Ende war, dal? der Geistliche das Kind nie-
mals sah.
Eine Zeitlang blieb es daher in dem alten
Geleise. Der heulende und kreischende Balg
al? mehr als seine drei Brüder zusammen.
Streiche aller Art führte er aus, und die bos-
haftesten waren ihm am liebsten. Endlich trug
es sich zu, dal? ein im Lande umziehender
Sackpfeifer,Tim Carrol genannt, hereingerufen
wurde und sich zu der Hausfrau beim Feuer
niedersetzte, ein we-
nig zu schwätzen.
Nach einiger Zeit
holte Tim die Pfeifen
hervor und begann
zu spielen. In diesem
Augenblick richtete
sich das kleine Ding,
das bisher in seiner
W^iege mäuschen-
still gelegen hatte, in
die Höhe, grinste und
verdrehte sein gar-
stiges Gesicht, focht
mit seinen langen,
hraungelben Armen
in der Luft umher,
streckte seine krum-
men Beine heraus,
kurz, gab alleZeichen
der größten Freude
über die Musik von
sich. Um ihm den Spaß zu machen, sagte die
Mutter zu Tim: „Gib sie ihm auf einen Augen-
blick!“ Tim, der die Kinder gern hatte, war so-
gleich bereit dazu. Der Kleine setzte die Pfeifen
an, nahm Balg und Säcke unter die Arme und
handhabte beides, als wäre er schon zwanzig
Jahre dabei gewesen, und blies ein wohl-
bekanntes Lied, daß es eine Art hatte. Jeder-
mann war im größten Erstaunen, und die arme
Mutter bekreuzigte sich, aber Tim geriet außer
sich vor Freude, und als er vernahm, daß der
kleine Duckmäuser noch nicht fünf Jahre alt war
und sein Lebtag keine Pfeifen gesehen hatte,
wünschte er der Mutter mit vielen Worten
Glück zu ihrem Sohn. Die arme Frau war in

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