Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

DOI Heft:
Achtes Heft
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0175
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Orchideengarten
Phantastische Blätter

Herausgeber Karl Hans Strobl

Dritter Jahrgang


Schriftleiter Alf von Czibulka
Achtes Heft

TOT?
Von Ernst Karl Juki. (Mit vier Zeichnungen von Karl Ritter.)

rofessor Notburg, der von
seinem Amt als Leiter der
Irrenanstalt zurücktreten
wollte, führte den zu sei-
nem Nachfolger bestimm-
ten Dr. Hilfsstett durch das
Krankenhaus. Von Saal zu Saal gehend, be-
mühte er sich, dem neuen Leiter jeden ein-
zelnen Patienten als „interessanten Fall“ be-
sonders ans Herz zu legen. Der Rundgang hatte
die Morgenstunden ausgefüllt, und Dr. Hilfs-
stett begann sichtlich zu ermüden.
„Wir sind gleich fertig, Kollege,“ sagte der
Professor, „nur eine Patientin möchte ich Ihnen
noch vorstellen, an der mein Interesse, ja meine
Teilnahme ganz besonders hängt.“ —
Damit öffnete Notburg die Tür zu einem
Krankenzimmer, das trotz seiner hellgehaltenen
V?ände und weißen Möbel durch das dunkle
Eisengitter vor dem Fenster einen gefängnis-
artigen Eindruck machte. Neben dem Bett saß
ein junges Mädchen und zog, eifrig betend, den
Rosenkranz durch die Hände. Nur flüchtig
schaute es auf die Eintretenden und versank
sofort wieder in seine Andacht.
Der Professor legte seine Rechte auf die un-
ruhigen Finger der Kranken, um sie zu hindern,
sich an der endlosen Schnur der Perlen weiter-
zutasten. „Wie geht’s, M aria ?“ fragte er. „Immer
noch so traurig und bedrückt?“
Das Mädchen starrte mit tiefgesenktem Kopf
auf die fremde Hand und murmelte leise: „Die
Ewigkeit bedrückt, Herr Professor. Sie wissen’s
nur nicht, weil Sie nicht einsehen, daß wir alle
tot sind.“
„Aber Maria!“ lachte der Arzt und hob mit

seiner linken Hand den Kopf des Mädchens,
bis es ihm in die Augen sehen mußte. „Sie sind
doch so lebendig wie ich.“
„Sagen Sie einmal — tot — Herr Professor!“,
forderte das Mädchen und hing mit dem Aus-
druck gespanntesten Erwartens am Munde des
Arztes, dessen beruhigendes Lachen plötzlich
zum Ernst überging. Seine Blicke senkten sich
immer tiefer in die weit offenen Pupillen des
Mädchens und suchten in stummer Zwiesprache
ihren Willen seinem hypnotischen Bann zu
unterwerfen. Die ganze Energie seines starken
Körpers konzentrierte sich in seinen Augen. Nur
leise strich er über den Scheitel der Kranken.
Auf ihrem regungslosen Gesicht aber blieb der
erwartende Ausdruck und ließ alle suggestive
Kraft an den starren Mienen abprallen. Auf der
Stirn des Arztes schwollen die geschlängelten
Adern blaurot an, und ein leises Zittern seiner
Gesichtshaut verriet das Lahmwerden seines
"Willens. Da zuckte ein leises Lächeln um die
Mundwinkeln des kranken Weibes und fast
spottend forderte es nochmals: „So sagen Sie
doch einmal — tot — Herr Professor!“ Se-
kundenlang verzerrte eine Grimasse das Antlitz
des Arztes, dann wurde es schlaff und aus-
drucksleer. Seine beiden Arme glitten kraftlos
herab, während seine Augen vergeblich von
denen der Kranken loszukommen suchten. Ganz
langsam begann sich sein Mund zu öffnen.
Dr. Hilfsstett hatte besorgt den Wandel in
des Professors Mienen beobachtet.Jetzt legte er
schnell seine Hand dem älteren Kollegen auf
den Rücken und sagte leise: „Es ist genug. Geben
Sie Ihren Versuch für heute auf.“
ProfessorNotburgfuhr zusammen, sekunden-


I
 
Annotationen