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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Achtes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0183
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wie der schändliche Vogel, der sein eigenes
Nest beschmutzt, wählte er das Opfer aus
seiner eigenen Familie. Freilich behaupten einige,
dal? Ines de las Sierras, so hiel? seine leibliche
Nichte, ihrer Entführung heimlich zugestimmt
hätte.
Ich sagte, dal? dies einer seiner ersten Streif-
züge war, weil die Chronik von noch vielen
anderen zu erzählen weil?. Die Einkünfte, die
diese Felsentrümmer abwarfen, die seit Anbe-
ginn der Zeiten dem Fluch des Himmels ver-
fallen zu sein scheinen, hätten keineswegs für
seine Ausgaben genügt, wenn er sie nicht durch
Abgaben, die er von den Vorüberreisenden
erhob, vermehrt hätte. Was man solange
Straßenraub nennt, als die Eintreibung nicht
durch die allerhöchsten Herrschaften geschieht.
So war der Name Ghismondos und seines
Schlosses in kurzer Zeit gefürchtet.“
„Ist dies alles?“ fragte Boutraix. „Was du
uns da erzählt hast, geschah damals überall.
Es war eine der notwendigen Folgen der Feudal-
herrschaft, eine Fortsetzung alter Barbarei jener
Jahrhunderte der Unwissenheit und der
Sklaverei.“
„Was ich noch zu erzählen habe, ist freilich
weniger gewöhnlich“, antwortete der Arriero.
„Die zarte Ines, die im christlichen Glauben er-
zogen worden war, w,urde plötzlich — heute

ist übrigens der Jahrestag — von einem Strahl
göttlicher Gnade erleuchtet. In dem Augen-
blick, in dem die mitternächtige Stunde die
Gläubigen an die Geburt des Heilands mahnt,
drang sie gegen ihre Gewohnheit in den Ban-
kettsaal ein, in dem die drei Strauchdiebe vor
dem Kamine saßen und sich von ihren Schand-
taten unterhielten. Sie waren so gut wie be-
trunken. Gestärkt durch den Glauben, schilderte
sie ihnen in lebendigen Worten die Verrucht-
heit ihrer Taten und als deren Folgen die ewigen
Strafen. Sie weinte, flehte und warf sich schließ-
lich vor Ghismondo in die Knie, preßte ihre
weiße Hand auf sein Herz, das noch vor kurzem
für ihre Liebe geschlagen hatte, und versuchte
in ihm eine Spur menschlichen Gefühls zu er-
wecken. Das war, Senores, ein Unterfangen,
das über ihre Kräfte ging. Ghismondo, aufge-
hetzt durch seine barbarischen Spießgesellen,
antwortete ihr mit einem Dolchstoß, der ihr
das Herz zerfleischte.“
„V/elch ein Scheusal!“ schrie Sergy auf,
als hätte er die Geschichte einer wahren Be-
gebenheit gehört.
„Und dieser fürchterliche Zwischenfall“, be-
richteteEstevan weiter, „minderte dennoch nicht
die Ausgelassenheit und wilde Freude der drei
Gesellen. Obwohl das tote Mädchen vor ihnen
lag, fuhren sie fort zu saufen und gottlose Lieder

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