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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Achtes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0185
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der zu ihm führt, ist, wie Sie sich selbst über-
zeugen können, gemieden worden. Man weil?
nur das eine, dal? alljährlich um die Mitternacht
des vierundzwanzigsten Dezembers — das ist
heute in wenigen Stunden, Senores — plötz-
lich die Fensterhöhlen des Schlosses in vollem
Licht er strahlen. Alle jene, die es jemals wagten,
diese fürchterlichen Geheimnisse zu ergründen,
wissen, dal? um diese Stunde Ritter, Knappe
und Page aus dem Schol?e des Todes aufer-
stehen und sich zur Feier der blutigen Orgie
zur Tafel setzen. Das ist das Urteil, dem sie
bis zum Jüngsten Tage verfallen sind. Einen
Augenblick später erscheint Ines, angetan mit
ihrem Totenlinnen, das sie abwirft, um ihr Ge-
wand, das sie immer trug, zu zeigen. Ja, Ines,
die trinkt und il?t und singt und tanzt mit ihnen.
Nachdem sie sich eine Weile dem W ahne ihrer
tollen Freude hingegeben haben, jedesmal von
neuem wähnend, dal? er niemals enden werde,
zeigt ihnen das junge Mädchen die noch immer
offene Wunde, berührt ihre Herzen mit der
Flammenhand und kehrt zum Fegfeuer zurück,
nachdem sie die Gesellen den Qualen der Hölle
überlassen hat."
Diese letzten ^Vorte riefen bei Boutraix
einen Lachkrampf hervor, der so heftig war,
dal? er einen Augenblick lang ernstlich zu er-
sticken drohte.
„Der Teufel soll dich holen," schrie er und
schlug den Arriero mit einem freundschaft-
lichen Faustschlag auf die Schulter, „ich war
nahe daran, durch deine Possen, die du übrigens
recht gut erzählst, ergriffen zu werden, und ich
war schon ganz benommen, als mich dein Ge-

fasel von der Hölle und dem Fegfeuer wieder
zur Vernunft brachten. Vorurteile, mein teurer
Katalonier! Vorurteile für Kinder, die man
mit Mummenschanz erschreckt! Alte Märchen
des Aberglaubens, die ihre Wirkung längst
überall verloren haben, aul?er vielleicht in
Spanien. Du wirst gleich sehen, ob der Teufel
mich daran hindern wird, den Wein gut zu
finden — was mich übrigens daran erinnert
dal? ich durstig bin. Tu mir den einzigen Ge-
fallen und treibe deine Maultiere an, denn ich
würde gerne Satan selber einen Trinkspruch
bringen, wenn um diesen Preis das Abendessen
rascher vor mir stünde."
Da sagte der Arriero: „So ähnlich waren
auch die Worte meines Vaters, als er einmal
mit Soldaten zechte, wie er selber einer war.
Als sie noch Wein vom Wirte der Taverne
verlangten, sagte dieser; „Es gibt keinen mehr,
außer im Schlosse von Ghismondo."
„Den werde ich trinken!" entgegnete mein
Vater, der damals so gotteslästerlich wie der
nächstbeste Landstreicher war. „Beim gehei-
ligten Leib Gottes, ich werde ihn trinken und
wenn Satan selber ihn mir kredenzen sollte! —
Ich gehe" — — „Du wirst nicht gehen!" — —
„Ich werde!-Ich werde gehen“, trotzte er,
indem er eine noch gräßlichere Gotteslästerung
beging. Und er setzte es auch durch und ging.
„Bei deinem Vater," sagte Sergy, „fällt mir
ein, dal? du die Frage, die Herr Boutraix dir
früher stellte, zu beantworten vergessen hast.
Was sah dein Vater im Schlosse Ghismondo ?"
„Alles was ich Ihnen gesagthabe, edle Senores.
— Nachdem er eine lange Galerie mit uralten

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