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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 3.1921

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Heft 9/10
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https://doi.org/10.11588/diglit.29028#0208
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eignen, bei denen nur frohe Weisen erklingen
sollten.“-„Aber wartet ein wenig,“ sagte
sie, indem sie ihre Augen, die wie der Himmel
leuchteten, zur Decke erhob und einzelne be-
zaubernde Töne anstimmte, „dies hier ist die
Romanze von Nina Matada, die Euch und mir
unbekannt ist, weil ich die Melodie erst finden
werde, wenn ich sie singe.“
Niemand kann wohl verkennen, wie viel
Verführerisches der Eifer des Improvisierens
einer begnadeten Stimme verleiht. Unglück-
lich der Mensch, der kühl seine durch Ver-
stand und Zeit durchgearbeiteten und wohl
überlegten Gedanken niederschreibt. Niemals
wird er eine Seele in ihren geheimsten Ge-
fühlen aufwühlen. Aber Zeuge der Kindheit
einer großen Idee sein, Zusehen können, wie
sie, gleich Minerva aus Jupiters Haupt, dem
genialischen Geiste eines Künstlers entsteigt
und auf den Flügeln der Worte, der Dichtung
und der Musik mit ihm durch die unbekann-
ten Räume der Phantasie getragen zu werden,
gehört zu den hellsten Freuden, die unserer
unvollkommenen Natur gegeben sind. Es ist
dies die einzige Freude, die unser irdisches We-
sen der Gottheit nähert, der es entsprossen ist.
Das, was ich Ihnen eben sagte, fühlte ich
bei den ersten Tönen, die Ines sang. Was ich


aber später empfand, das kann keine Sprache
Ihnen sagen. Die beiden Teile meines Seins
trennten sich deutlich in meinem Geiste. Der
eine, ungeschlacht und träge, beschwerte mit
seinem Gewicht einen der Lehnsessel Ghis-
mondos, der andere schwebte mit den Worten,
die Ines sang, befreit zum Himmel. Seien Sie
dessen sicher, daß, wenn je ein unglückseliger
Geist an den ewigen Gewalten gezweifelt hat,
deren unvergängliches Leben während einer
kurzen Zeit durch die Ketten unseres Daseins
gefesselt wird, er es nur deshalb tat, weil er
niemals Ines oder eine Frau wie sie singen hörte.
Meine Natur webrt sich, wie Sie wohl wis-
sen, nicht gegen solches seelisches Bewegtsein.
Aber ich halte meine Veranlagung für zu wenig
zart, als daß ich mich solchen Gefühlen gänz-
lich hingeben könnte. Etwas anderes war dies
bei Sergy, dessen ganze Art die einer kaum gefan-
genen Seele war, und der nur durch schwache
Fesseln an sein irdisches Leben gebunden schien,
immer bereit, sich ihrer zu entledigen, wenn
er frei sein wollte. — Sergy schrie auf, weinte
und war von Sinnen. Und als Ines, selbst völlig
hingerissen, sich in noch erleseneren Ein-
gehungen verlor, als die es waren, deren Musik
wir soeben gehört hatten, schien sie ihn lä-
chelnd zu rufen.


Heinrich Kley

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