Der Orchideengarten : phantastische Blätter (3.1921)

DER HEILIGE FRANZISKUS UND DER REGENWURM
Von Siegfried v. Vegesack (Zeichnung von R. v. H o e r s eh el m a n n)

Und eines Tages, da ein heft'ger Sturm
Den heil'gen Franz in eine Höhle trieb,
W?o betend er die ganze Nacht verblieb.
Sah er am Morgen einen Regenwurm
Sich winden.
Den Heimweg in den Erdenklol? zu finden.
Da rief in tiefem Weh der hefige Franz:
„O Herr, Du schenktest aller Kreatur
Den Drang zum Licht
Und nur
Dem Ärmsten meiner Brüder nicht.
"Was weigerst Du ihm Deiner Gnade Glanz?
Nun ist auch mir verleidet alles Licht.
W’ie konnte Deine Sonne ich ertragen.
Indes mein Bruder sich im Finstern müht?
Solange ihm nicht deine Gnade glüht.

Sei auch mein Blick mit Blindheit ganz ge-
schlagen :
Ich bleibe hier im Höhlenschacht
Bis Du uns beide
Erlöst aus Nacht!“
Und da geschah es:
Verklärt, mit strahlender Gebärde,
Erhob der Regenwurm sich von der Erde
Und beugte sich in Demut vor dem Licht.
Der Hefige sah es
Und stürzte schluchzend vor dem Wurme
nieder:
„Ärmster meiner Brüder —
Dal? sich der Herr auch Deiner Not erbarmte!“
Und er umarmte
Verzückt in Ehrfurcht den verklärten WTurm.