Charakter. Grtindrifs.
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sich, dafs dieselbe erst in diesem das mit dem Blicke nach Oben gesuchte
Ideal, die Vergeistigung der toten Masse gefunden hat. Der gotische Dom
entspricht der evangelischen Forderung des mittelalterlichen Dichters
(s. Bd. I, 54 No. 2):
Man sol an liehter ivite Kristen-glouben künden uncl Kristes-ammet,
und wenn der griechische Tempel nur den Aufsenbau und die romanische
Kirche nur den Innenhau ausgebildet hatte, so gelang dem gotischen Stile
eine gleichmäfsige Ausbildung des Innern und des Äufsern. — In tech-
nischer Beziehung ist zu bemerken, dafs die gotische Architektur die
Kunst verstand, mit möglichst wenig Steinen die gröfst möglichen Räume
zu umsehliefsen und den durch das nördlichere Klima gegebenen Bedürf-
nissen der Sicherung des Gebäudes gegen die zerstörenden Einflüsse der
feuchten Niederschläge und reichlicher Lichtzuführung für das Innere
am vollkommensten zu genügen. — Getadelt hat man an dem Stile eine
gewisse, namentlich an der Chorpartie bemerkliche Zerklüftung des Äufseren,
welche die Strebepfeiler und Bögen fast -wie ein stehengebliebenes ko-
lossales Baugerüst erscheinen läfst, und die iibermäfsige Gröfse der Fenster,
deren überreichliches und grelles Licht im Mittelalter indes durch die
nirgends fehlende Ausfüllung mit gefärbtem Glase gemäfsigt und ge-
dämpft war.1
132. Der Grundrifs des gotischen Domes zeigt bei wesentlicher
Beibehaltung der alten Basiliken- und Kreuzform eine freiere Behand-
lung des überlieferten strengen Typus, welche sich namentlich aus-
spricht in dem mit dem ganzen Langhause in Eins verschmolzenen,
verlängerten Altarraum und dessen polygoniscliem Schlufs.
1 Die Mängel des got. Stils hat bereits, wenn auch nicht ohne Einseitigkeit, dar-
gelegt: Hübsch (Die Architektur und inre Verhältnisse etc., 88 ff.), welcher den got.
Dom ein „Glashaus“ nennt.
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sich, dafs dieselbe erst in diesem das mit dem Blicke nach Oben gesuchte
Ideal, die Vergeistigung der toten Masse gefunden hat. Der gotische Dom
entspricht der evangelischen Forderung des mittelalterlichen Dichters
(s. Bd. I, 54 No. 2):
Man sol an liehter ivite Kristen-glouben künden uncl Kristes-ammet,
und wenn der griechische Tempel nur den Aufsenbau und die romanische
Kirche nur den Innenhau ausgebildet hatte, so gelang dem gotischen Stile
eine gleichmäfsige Ausbildung des Innern und des Äufsern. — In tech-
nischer Beziehung ist zu bemerken, dafs die gotische Architektur die
Kunst verstand, mit möglichst wenig Steinen die gröfst möglichen Räume
zu umsehliefsen und den durch das nördlichere Klima gegebenen Bedürf-
nissen der Sicherung des Gebäudes gegen die zerstörenden Einflüsse der
feuchten Niederschläge und reichlicher Lichtzuführung für das Innere
am vollkommensten zu genügen. — Getadelt hat man an dem Stile eine
gewisse, namentlich an der Chorpartie bemerkliche Zerklüftung des Äufseren,
welche die Strebepfeiler und Bögen fast -wie ein stehengebliebenes ko-
lossales Baugerüst erscheinen läfst, und die iibermäfsige Gröfse der Fenster,
deren überreichliches und grelles Licht im Mittelalter indes durch die
nirgends fehlende Ausfüllung mit gefärbtem Glase gemäfsigt und ge-
dämpft war.1
132. Der Grundrifs des gotischen Domes zeigt bei wesentlicher
Beibehaltung der alten Basiliken- und Kreuzform eine freiere Behand-
lung des überlieferten strengen Typus, welche sich namentlich aus-
spricht in dem mit dem ganzen Langhause in Eins verschmolzenen,
verlängerten Altarraum und dessen polygoniscliem Schlufs.
1 Die Mängel des got. Stils hat bereits, wenn auch nicht ohne Einseitigkeit, dar-
gelegt: Hübsch (Die Architektur und inre Verhältnisse etc., 88 ff.), welcher den got.
Dom ein „Glashaus“ nennt.