Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Paatz, Walter
Bernt Notke und sein Kreis (Band 1): Text — Berlin, 1939

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34817#0178
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
i6z

DRITTER TEIL: DIE BILDSCHNITZER

klärung, die eben nicht nut in den Werken det griechisch-römischen Antike vorgebildet war,
sondern ebensosehr auch in den gotischen Werken des hohen Mittelalters. Harmonie und Eben-
maß unterscheiden denn auch bezeichnenderweise noch andere, ja nahezu sämtliche Arbeiten
Hennings von ihren notkeschen Vorbildern.
Abb. 172 Schon in Hennings frühem Kruzifix aus Vaetoy wurde die heroische Wucht eines notkeschen
Abb. 15 Werkes, des frühen Gekreuzigten von Kirke Stillinge, zu milder Schönheit verklärt, wenngleich
noch jugendlich unbeholfen. Voll ausgereift olfenbarte sich Hennings feiner, klassisch gestimmter
Schönheitssinn dann in dem wunderbar stillen, edlen, sorgsam durchgeformten Kruzihx zu Stock-
Abb. 170 holm.
Gleich dem Kruzihxmotiv erfuhr auch das Motiv des stehenden St. Jürgen beim Übergang aus
dem Bereich Notkes in den Bereich Hennings eine Verklärung. Bezeichnenderweise wählte Hen-
ning aus dem Formenschatz der Notke-Werkstatt für dieses Thema nicht den von Notke selbst
Abb. 99,100 geprägten Elbinger Typus, in dem ein Wirbel von Bewegung die Figur mit sich reißt, sondern
vielmehr den stilleren, von Gehilfenhand geprägten, klar in einer idealen Fläche ausgebreiteten
Abb. 32,33 Typus der Statuette am Aarhuser Hochaltar. Außerdem verstärkte er die Ruhe, die diesem Typus
von Anfang an innewohnte, allmählich immer mehr. An seinem frühen Schlagsdorfer St. Jürgen
Abb. 176 neigt sich noch der ganze Oberkörper ein wenig nach vorn; an der späten Rigaer Statuette da-
gegen neigt sich bloß noch der Kopf und auch dieser lediglich ganz leicht, so daß nunmehr das
Statuarische im schönsten Sinne des Wortes den Eindruck bestimmt, die strenge Haltung der
Abb. 187 Gestalt und die ruhige Existenz ihrer kraftvoll modellierten Glieder. Wie bei der Behandlung des
Johannes-Typus (Roskilde, Lübeck), so gelangte Henning also auch bei der Behandlung des
St. Jürgen-Typus zwischen 1490 und 1310 zu einer immer entschiedeneren Beruhigung und Klä-
rung der Form.
Auf diesem Wege machte er um 149$ einen Fortschritt, der so auffällt, daß er als das entscheidende
Geschehnis beim Übergang vom frühen zum mittleren Stil des Meisters gelten darf. Damals ent-
Abb. 178 stand die Gregors-Messe des Lübecker Fronleichnams-Altares. In dieser Komposition wurde die
Formulierung, die derselbe Henning für denselben Gegenstand ein Jahrfünft früher in Rytterne
Abb. 166 gefunden hatte, ganz erstaunlich geklärt und gefestigt. Für die Rytterner Darstellung erscheint
der Ausdruck „Komposition" fast zu hoch gegriffen; so kunstlos sind die überlieferten Bild-
elemente der Gregors-Messe zusammengestellt (beinahe möchte man sagen: aufgezählt!). Der
wunderbarerweise erscheinende Christus steht unter der Schar der Geistlichen, als sei er ein
Mensch unter seinesgleichen. Er erscheint dem ungläubigen Papst auf einem Altartisch, der viel
zu klein ist, um als solcher erkannt zu werden; es wird also nicht deutlich, daß es sich um eine
Messeszene handelt. Papst Gregor, der doch die Vision hat und deshalb die Haupthgur sein sollte,
kniet etwas abseits, ohne sich recht aus seinem Gefolge hervorzuheben. Überdies sind noch
zwischen und über den bisher genannten, illusionistisch behandelten Figuren in bedrängend naher
Nachbarschaft ganz gleichberechtigt verblühend abstrakte Gebilde ausgestreut. Köpfe und Gegen-
stände, die man erst mit einiger Mühe als Symbole der Passion („arma Christi") und damit als
Attribute der wunderbaren Erscheinung des Heilandes erkennt. Hier erscheint also das Verschie-
denartigste unterschiedslos nebeneinander, distanzlos, in verwirrender Vermischung von Wunder-
barem und Wirklichem (2$ 8). In der Lübecker Fassung dagegen wurde alles mit gereiftem künst-
lerischen Verständnis an seine richtige Stelle gerückt und dadurch geklärt und ins Monumentale
gesteigert. Die Passionssymbole sind fortgelassen. Christus ist viel kleiner dargestellt als die
233) Diese Darstellung entspricht dem älteren Typus der Gregors-Vision, wie er in der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts üblich war, bevor man aus der Vision eine Meßdarstellung machte. -Vgl. dazu unten S. 20ßf.
 
Annotationen