centisten erschlossene Möglichkeit zur anschaulichen Schilderung der
eigenen Lebensatmosphäre mußte dem Wirklichkeitssinn der Maler
der Renaissance in hohem Maße Zusagen. Das Quattrocento ist denn
auch eine Blütezeit des sittenbildlichen Realismus. Die Schilderung von
Zügen aus dem täglichen Leben der Gegenwart drängte sich in den
religiösen Historienbildern der Frührenaissance immer mehr hervor,
ln äußersten Fällen wurde das religiöse Thema zu einem bloßen Vor-
wand. Ghirlandaio zum Beispiel malte in seinem Hauptwerk, dem
Marienleben-Zyklus an den Wänden der Hauptchorkapelle von
Sta. Maria Novella zu Florenz (1485-1490) Szenen aus dem Leben
in vornehmen Florentiner Bürgerhäusern seiner Zeit--L So weit
gingen die Maler der Renaissance freilich nur ausnahmsweise. Aber
durchweg gehört das Eingehen auf das Menschliche - das Sittenbild-
liche im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes - zu den auffallend-
sten Charakterzügen der religiösen Malerei der Renaissance. Eben
deshalb sind viele Bilder aus dieser Zeit noch heute so allgemein be-
liebt. Ich erinnere nur an die hochberühmten Darstellungen der Ma-
donna und der hl. Anna selbdritt. Die Mutter mit ihrem Kinde -
dieses ewige, die Menschen aller Zeiten im Urgrund bewegende Motiv
- hat in solchen Darstellungen eine unvergängliche Gestalt gewonnen.
Die großen Maler der Renaissance haben mit solchen Bildern ihre
höchsten Wirkungen erreicht - vor allem Leonardo und Raffael. Der
Sinn für das Menschliche, die Liebe zu den ewigen Urformen mensch-
lichen Lebens, ist einer der tiefsten und schönsten Züge im National-
charakter des italienischen Volkes, ln der Hochrenaissance fand er
eine Erfüllung in der Malerei, die klassisch genannt zu werden ver-
dient. -Das selbständige Sittenbild blieb noch eine
seltene Ausnahme. Die internationale Hafenstadt Venedig bot einen
besonders günstigen Boden dafür. Der Venezianer Carpaccio hat ein
Kurtisanenbild gemalt - hier deutete sich an, was sich in Paris im
19. Jahrhundert vollenden sollte. Es soll nicht verschwiegen werden,
daß die Liebe zur Schilderung der zeitgenössischen Lebensformen
bereits gelegentlich zu Exzessen führte, ln der Graphik der Raffael-
Schule entstanden neben den Madonnenbildern auch Zyklen mit por-
nographischen Darstellungen. Das literarische Gegenstück dazu sind
die berüchtigten „Ragionamenti" - Kurtisanengespräche - des Pietro
Aretino. ln solchen Schöpfungen der Renaissance offenbart sich die
Kehrseite der Sinnenlust, eines Grundzuges aller Renaissancekunst.
Wie immer, so gehört auch in diesem Falle zum Positiven das Nega-
tive, zum Licht der Schatten.
Hntike Tbemaia --L Darstellungen aus der antiken Götter- und Hel-
densage und Darstellungen aus der antiken Geschichte spielen in der
Renaissancemalerei eine große Rolle - eine ebenso große Rolle wie in
122
eigenen Lebensatmosphäre mußte dem Wirklichkeitssinn der Maler
der Renaissance in hohem Maße Zusagen. Das Quattrocento ist denn
auch eine Blütezeit des sittenbildlichen Realismus. Die Schilderung von
Zügen aus dem täglichen Leben der Gegenwart drängte sich in den
religiösen Historienbildern der Frührenaissance immer mehr hervor,
ln äußersten Fällen wurde das religiöse Thema zu einem bloßen Vor-
wand. Ghirlandaio zum Beispiel malte in seinem Hauptwerk, dem
Marienleben-Zyklus an den Wänden der Hauptchorkapelle von
Sta. Maria Novella zu Florenz (1485-1490) Szenen aus dem Leben
in vornehmen Florentiner Bürgerhäusern seiner Zeit--L So weit
gingen die Maler der Renaissance freilich nur ausnahmsweise. Aber
durchweg gehört das Eingehen auf das Menschliche - das Sittenbild-
liche im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes - zu den auffallend-
sten Charakterzügen der religiösen Malerei der Renaissance. Eben
deshalb sind viele Bilder aus dieser Zeit noch heute so allgemein be-
liebt. Ich erinnere nur an die hochberühmten Darstellungen der Ma-
donna und der hl. Anna selbdritt. Die Mutter mit ihrem Kinde -
dieses ewige, die Menschen aller Zeiten im Urgrund bewegende Motiv
- hat in solchen Darstellungen eine unvergängliche Gestalt gewonnen.
Die großen Maler der Renaissance haben mit solchen Bildern ihre
höchsten Wirkungen erreicht - vor allem Leonardo und Raffael. Der
Sinn für das Menschliche, die Liebe zu den ewigen Urformen mensch-
lichen Lebens, ist einer der tiefsten und schönsten Züge im National-
charakter des italienischen Volkes, ln der Hochrenaissance fand er
eine Erfüllung in der Malerei, die klassisch genannt zu werden ver-
dient. -Das selbständige Sittenbild blieb noch eine
seltene Ausnahme. Die internationale Hafenstadt Venedig bot einen
besonders günstigen Boden dafür. Der Venezianer Carpaccio hat ein
Kurtisanenbild gemalt - hier deutete sich an, was sich in Paris im
19. Jahrhundert vollenden sollte. Es soll nicht verschwiegen werden,
daß die Liebe zur Schilderung der zeitgenössischen Lebensformen
bereits gelegentlich zu Exzessen führte, ln der Graphik der Raffael-
Schule entstanden neben den Madonnenbildern auch Zyklen mit por-
nographischen Darstellungen. Das literarische Gegenstück dazu sind
die berüchtigten „Ragionamenti" - Kurtisanengespräche - des Pietro
Aretino. ln solchen Schöpfungen der Renaissance offenbart sich die
Kehrseite der Sinnenlust, eines Grundzuges aller Renaissancekunst.
Wie immer, so gehört auch in diesem Falle zum Positiven das Nega-
tive, zum Licht der Schatten.
Hntike Tbemaia --L Darstellungen aus der antiken Götter- und Hel-
densage und Darstellungen aus der antiken Geschichte spielen in der
Renaissancemalerei eine große Rolle - eine ebenso große Rolle wie in
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