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Wickelungen und wer von ihnen in rastloser Geistesarbeit
und Selbstzucht zu der Kunst der hohen Vollendungen empor-
geht — wer kann es wissen? "Wie diese Kunst aber sein
wird und sein muss, das unterliegt keiner Frage. Es giebt
ein Absolutes in der Poesie, das zu allen Zeiten Recht und
Geltung behauptet hat, eine Höhe, zu der stets die Kunst
eines neuen Zeitalters und einer neuen Entwickelung unauf-
haltsam hindrängte. Wie die Poesie der Ariost, Shakespeare
und Cervantes den weltfrohen, leidenschaftsgetriebenen Con-
quistador der Renaissance, die Corneille, Racine und Milton
den in Regeln und Formen gebundenen Autorit'ätsmenschen
des absolutistischen Zeitalters und wie die Goethe und Schiller
den versöhnlich-menschenfreundlichen Sohn des duldsamen,
humanitären Jahrhunderts in der gültigsten, in der höchsten
und reinsten Gestaltung schufen, so steht auch unsere Poesie
vor der Aufgabe, den neuen Menschen darzustellen, den
unser Jahrhundert werden liess, und der ein anderer ist,
als der Elternmensch, kraft unseres veränderten Erkennens
und Wissens von der Natur und dem Menschen. Denn was
bedeutet das Wort „modern" im edelsten Sinne anders als
„Kulturhöhe", als das Faustische Ringen nach dem Besitz
alles Wissens, das die Menschheit in rastloser Arbeit erworben
hat, und das tiefe, heilige Fühlen dieses Wissens, dieses
Wissens Religion und Weltanschauung. So umspannte
Dante die ganze Vorstellungs-, Gefühls- und Gedankenwelt
des Mittelalters, aber ein Geist von Dantescher Bildung konnte
schon der Dichtung des sechzehnten Jahrhunderts nicht mehr
als Führer vorangehen, und zu der freien Luft, welche die
Höhen des Weimarer Parnasses umspülte, vermochten Raci-
nesche Naturen nicht mehr hin zu gelangen.

Das ist aber das Beschränkte des Naturalismus, das erst
nur wissenschaftliche Wesen seiner Kunst: noch fühlt er sich
nicht heimisch und vertraut in der neuen Welt und unsicher

tastet er in ihr umher, all das Merkwürdige und Ungewohnte,
das auf ihn eindringt, beobachtend und belauernd. Er stu-
diert sich selbst und das Aussen des Lebens, er seciert, ana-
lysiert und reflektiert; doch herausgehoben aus dem Alten
und Gewohnten, in dem Neuen noch nicht eingerichtet,
zum Kampf gezwungen gegen die Kinder der Vergangenheits-
welt, ohne dass er schon klar weiss, wohin er selber treibt,
„aus dem Mittelpunkt" gebracht, trägt er eine verstimmte
Seele in seiner Brust und starrt mit verdriesslichem Pessimis-
mus über die Dinge dahin. Er steht über oder unter der
neuen Welt, aus der Ferne sie schauend, die Dichtung der
Vollendung aber trägt diese neue Welt in sich. Das Wissen
ward zu einem sicheren Fühlen und Glauben, zu einem Ideal
und zu einer Religion. Und wie ein Bergquell, frei und
mächtig, aus den dunkelsten Tiefen des instinktiven und
unbewussten Seelenlebens, aus den Unmittelbarkeiten und
Ursprünglichkeiten strömt das Wort, ergreifend, weil es aus
ergriffenem, aus gläubigem und zuversichtlichem Herzen
kommt. Diese Dichtung glaubt an sich und an ihre Welt;
sie fühlt sich von der Hoheit und Reinheit, von der Wahr-
heit und Erlösungskraft des neuen Geistes durchdrungen,
und von ihm zu den Vollkommenheiten und seligsten Har-
monieen des Daseins emporgetragen. Das Glück aber, das
ihr zu teil geworden, möchte sie aller Welt verkündigen
und so erhebt sie sich zur Idealgestaltung des neuen Men-
schen; unter ihr bleibt der Dunst und Dampf der Alltäglich-
keiten, das Gemeine und Brutale, unter ihr die wahre und
die ewige misera plebs der toten Seelen. Sie aber nahm „den
Aufschwung zu den höheren Sphären" und verkündet von
oben herab, was uns alle reiner, besser und edler, was uns
die Zwiespälte des Daseins überwinden macht und die Tragik
des Lebens unter unsere Füsse bringt.

Julius Hart

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