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VERGESSENE KUNST

ES IST verwunderlich, wie sehr das Wort „modern"
wieder seine einstigen Schrecken verloren hat. Einiges
Nachdenken dürfte uns die hinreichende Erklärung für das
ganze eigentümliche künstlerische Treiben dieses Jahr-
hunderts, das so sehr bejammert worden ist, geben. Wie
viel ist über die unnatürliche Liebe zum Alten, über die
antiquarische Sammelwut der letzten Jahrzehnte, über die
vom Alten so gänzlich abhängigen Wege der künstlerischen
Arbeit unsrer Zeit geklagt worden! Und wie merkwürd.g
war die Abneigung bisher gegen alles, was einem „mo-
dernen" Anstrich hatte!

Ein Fünklein neuen Verständnisses dämmerte mir über
das, was mir so lange unerklärt schien, als ich mich jüngst
meines alten Meisters erinnerte, der bei einem recht modern
anklingenden Produkt uns aufs strengste einschärfte: „Meine
Herren, das dürfen Sie nicht machen; das ist nicht echt!«

Ja, das „Echte", das war es in der That was uns so
lange und mit Recht in den schönen Werken der Alten, m
des Orients köstlichen Geweben, selbst in der Indianer ein.
fachen Stickereien unwiderstehlich anzog, und was wir in
der jetzt glücklich vergangenen Gegenwart nicht fanden.
Nenne man es Einheit, Harmonie, Stil oder sonst wie, -
dieses „Echte", dessen letzter Schimmer den Beginn unsres
Jahrhunderts überleuchtete, war wie es schien unwiederbring-
lich dahin und darum suchte man es überall sonst, wo man
es zu finden hoffte, nur nicht mehr bei uns selbst und in

unsrer Zeit. Das ist des Rätsels Lösung und der Grund
unsres antiquarischen, so oft verspotteten Treibens.

Und sieh — ganz plötzlich ist es wieder da! Aus allerlei
Winkeln und Ecken, wo man es am wenigsten gesucht hatte,
kriecht es und quillt es wieder hervor; freilich mit Hohn und
Missachtung begrüsst von denen, die es anderswo gefunden
zu haben wähnten, die dem noch lebendig geglaubten Schnee-
wittchen im gläsernen Sarg einen Weihtempel erbaut hatten,
in welchem sie ihre Opfer brachten, stets hoffend auf den
Prinzen, der das tote Königstöchterlein wieder aufwecken
würde. Aber die stolzen Augen bleiben ewig geschlossen,
kein Atem hebt die Brust und die sieben Zwerge sehen
nicht, dass draussen am Rain im Sonnengold ein kleines
Mägdlein spielt, dessen blaue Aeuglein wundersam locken —
denn in ihnen sitzt und leuchtet — das gesuchte „Echte."
Und das Grün der Wiese, das stille Gänseblümchen, der
kühle Schatten des Thalgrundes im Dämmerlicht — all das
spricht mit neuen Zungen zu uns, und die Vöglein im Ge-
büsch singen „echte" Lieder.

Wirklich, es ist eine Zeit geworden, die uns mit froher
Hoffnung erfüllt. Es beginnt ein Morgen neuer Jugend
zu tagen, wenn es auch kein Morgen sein mag, der einen
Tag der Sonnenhöhe, wie sie früher gewesen, einleitet, —
es ist aber wieder ein „echter" Morgen, es ist unser Morgen!

Daher dieser unwiderstehliche Zug, der uns langsam zu
dem Neuesten hinzwingt, der uns nötigt, Werke, die mit dem

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