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PAUL VERLAINE

UND DIE LYRIK DER DECADENCE IN FRANKREICH

ZU ALLEN Zeiten hat man über Verfall und Nieder-
gang geklagt. Auch in Frankreich ist wieder viel da-
von die Rede. Aber anders als anderwärts, denn mit einem
gewissen Behagen wird hier von der Decadence gesprochen,
ja, man pos't und koquettiert damit, und das "Wort ist in
gewissen Kreisen schon fast gleichbedeutend mit chic ge-
worden. Und da in Frankreich mehr als anderswo die Litteratur
der allgemeinen Stimmung folgt und mehr als anderswo eine
abgekürzte Chronik der Zeit bildet, so findet man in der
modernsten Litteratur den Hauptbeweis dafür, dass man in
einer Zeit des Verfalls lebe, und fast mit Recht, denn die
Litteratur ist heutzutage de'cadente.

Was nun aber die charakteristischen Merkmale dieser
Decadence in der Litteratur sind, darüber kann man sich
ebenso den Kopf zerbrechen, wie etwa über die ewige
Rätselfrage, was ist Romantik?

Diese Art Schlagwörter können nur negativ definiert
werden. Die Romantik war eine Richtung in Kunst und
Poesie, die sich gegen den Klassizismus wendete, jedoch die
disparatesten Ziele und verschiedenartigsten Geister um-
fasste. Der Naturalismus, der als Rückschlag darauf folgte,
war lediglich Antiromantismus, und so ist auch die Decadence
nichts weiter, als eine Abkehr vom Naturalismus.

Eine andere Frage ist, verdient diese Richtung eine so
kränkende Bezeichnung?

Die moderne Kunst ist raffinierter in der Wahl sowohl
ihrer Sujets, als ihrer Kunstmittel. Vielfach nur zu sehr; und
sie hat Werke hervorgebracht, die zweifellos krankhaft, un-
gesund und überraffiniert sind, aber es wäre ungerecht nach
solchen Auswüchsen das Ganze beurteilen zu wollen. Es
hat zu allen Zeiten ungesunde Menschen und also auch un-
gesunde Bücher gegeben, und zu keiner Zeit mehr als zu der
unseren haben Dichter existiert, die mit nervöser Hast nach
Neuem suchten und dabei nicht Künstler genug waren, zu
erkennen, •was jenseits der Grenzen ihres Könnens lag.

Man kann sehr häufig beobachten, dass eine neue
Richtung durch allerlei enfants terribles und unbedeutende
Anfänger diskreditiert wird, — schliesslich jedoch sondert
sich die Spreu vom Weizen und die wirklichen Talente, die
den neuen Schritt vorwärts gethan haben, treten aus der Masse
hervor und gewinnen Gestalt. An den Werken dieser selbst
freilich wird das Scheidungswerk dann ganz ebenso fort-
gesetzt und herausgesichtet, was von ihnen dauernden Wert
hat und was nicht.

Wie dem aber sei, ob man diese Kunstentwicklung nun
mit Recht oder Unrecht die der Decadence nennt, jedenfalls

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