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immer entschiedener das Zierliche, formal Gefällige, Hübsch-
heit und weiblichen JR.eiz, die runde Glätte des jugendlichen
Fleisches, kurz: er steuerte blind auf die Klippen zu, an
denen er scheitern mufste.

Wo Cranach die entscheidenden Jugendjahre zugebracht
hat, wissen wir leider nicht. Nur der Geburtsort, in der
Nähe von Bamberg, ist bekannt. Die Betrachtung der Holz-
schnitte und des Gemäldes von i 504, das sich bei den Erben
des kürzlich verstorbenen Dr. Fiedler befindet, weckt Vor-
stellungen, mit denen die Lücke in unserer Kenntnis kaum
gefüllt werden kann. Mag Grünewalds und Dürers Vorbild
der Entwicklung seiner Kunst förderlich gewesen sein, in
der Hauptsache hat die Jugendkunst des sächsischen Malers

mehr Eigenart als Schulung, mehr Natur als Kultur. Wie
Grünewald und Altdorfer tritt Cranach plötzlich mit aus-
geprägter Individualität in das Lichtfeld der Geschichte.
Zwischen 1470 und 1480 scheint der deutsche Boden kräftig,
sonderartige Persönlichkeiten zu zeugen. Mit irgend einer
Kunsttradition fest verknüpft scheint Cranach jedoch ebenso-
wenig wie Grünewald oder Altdorfer. In den Niederlanden,
in Italien, am Niederrhein war er kaum vor 1504. Er tritt
hervor mit kindlicher Unbewufstheit um Ziel und Zweck,
mit der täppischen Kraft und dem Mute des Jünglings, ver-
traut dem Felde, dem Walde, der Natur, fremd der Stadt
und ihren verfeinerten Lebensformen. Als der höhere Stand
schlechthin erscheint ihm das Rittertum, das auf den Burgen

haust. Mag er vor 1504 in den
kleinenStädten, auf den Schlössern
des Thüringer Waldlandes ge-
arbeitet haben oder nicht, in jedem
Falle erklärt diese Vorstellung
einige Eigenschaften seiner Kunst.
Von 1504 bis an sein Ende
lebte Cranach in Wittenberg —
in glücklichen äufseren Verhält-
nissen.

Zum deutschen Kernlande ge-
hörte das Eibgebiet nicht ganz,
nicht so recht zum alten Kultur-
boden. Wir nähern uns der
Grenze, wo die jung angebauten
Kolonien beginnen. Der noch
heute nicht verwischte Gegensatz
zwischen Alt- und Neudeutsch-
land, der populär als Kontrast
zwischen Nord- und Süddeutsch-
land besprochen wird, war zu
Beginn des 16. Jahrhunderts erst
recht deutlich. Goethe stammt
aus Frankfurt am Main, Kant
aus Königsberg. Das sächsische
Fürstenhaus, in dessen Dienst
Cranach trat, hatte als Vormacht
des nordöstlichen Deutschlands
etwa diejenige Stellung, die später
Brandenburg übernahm. Ein
armer Boden, wenig Vergangen-
heit, ein treuer und zäher Sinn,
tauglich zur Verstandesarbeit, ethi-
schen Forderungen offen, im
Künstlerischen aber unbegabt.
Der Ort wird am glücklichsten
bezeichnet durch die gröfste That,
die da geschah. Hier trat Luther
auf. Wittenberg stand zu Rom,
wie Nazareth einst zu Rom stand,
und die Reformatoren mögen im

Anm.: Die beigedruckten Nach-
bildungen der Holzschnitte sind aus
dem grofsen Lucas-Cranach-Werk
von Friedrich Lippmann, Verlag der
G. Groteschen Verlagsbuchhandlung,
Berlin 1895.

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