EIN STREIFBLICK
AUF DIE JUENGERE NORWEGISCHE L1TTERATUR
'IT TER SICH über die Entwicklung und den gegen-
W wältigen Stand des norwegischen Schrifttums unter-
richten will, befindet sich zumeist in einer üblen Lage. So
reich die Uebersetzungslitteratur ist, die ja für die meisten
die einzige Quelle sein mufs neben einigen mehr oder minder
zuverlässigen Litteraturberichten — ein Spiegelbild des reichen
literarischen Lebens in Norwegen gibt sie nicht. Von der
jüngsten Generation, den Leuten zwischen zo und 30 Jahren,
sind bei uns kaum die Namen der Hauptvertreter bekannt
geworden, und von der voraufgehenden Generation, den
Leuten, die jetzt in den Vierzigern stehn, ist eigentlich nur
Arne Garborg mit fast allen seinen Werken dem deutschen
Leser zugänglich geworden. Es ist daher nur zu begreiflich,
dafs den gegenwärtigen Stand der norwegischen Litteratur
zu kennen meint, wer die letzten Werke Ibsens, Björnsons
und Jonas Lies gelesen hat.
Damit wird aber ein völlig falsches Bild gewonnen; denn
von Ibsen und Björnson mufs wohl zugestanden werden, dafs
sie in den letzten Jahren ihren Besitzstand nur behauptet und
nicht erweitert haben, und Jonas Lies Märchen, die eine be-
deutende Besitzerweiterung darstellen, sind in Deutschland
nicht bekannt geworden.
"Wer den derzeitigen Stand der norwegischen Littera-
tur erfassen will, wird gut thun, zehn Jahre zurückzugehn.
Damals schon — und eigentlich früher noch, — als Ibsens
und Björnsons Dramen in Deutschland ihren Siegeszug an-
traten und endlich verständnisvolle Würdigung fanden,
drangen in Norwegen jüngere Talente durch und machten
sich geltend auf Kosten der älteren Generation: die Arne
Garborg, Gunnar Heiberg, Hans Jäger und Christian Krogh.
Sie bestanden ihre Feuerprobe in dem sogenannten
Bohemestreit, einer der eigentümlichsten Revolten, die die
Litteratur- und Sittengeschichte aufzuweisen hat.
Dieser Streit, der offiziell mit dem Erscheinen von Hans
Jägers Roman „Aus der Christianiaboheme" (Dezember
1885) begann, war nicht blofs litterarischer Natur; ja die
C 173 D
AUF DIE JUENGERE NORWEGISCHE L1TTERATUR
'IT TER SICH über die Entwicklung und den gegen-
W wältigen Stand des norwegischen Schrifttums unter-
richten will, befindet sich zumeist in einer üblen Lage. So
reich die Uebersetzungslitteratur ist, die ja für die meisten
die einzige Quelle sein mufs neben einigen mehr oder minder
zuverlässigen Litteraturberichten — ein Spiegelbild des reichen
literarischen Lebens in Norwegen gibt sie nicht. Von der
jüngsten Generation, den Leuten zwischen zo und 30 Jahren,
sind bei uns kaum die Namen der Hauptvertreter bekannt
geworden, und von der voraufgehenden Generation, den
Leuten, die jetzt in den Vierzigern stehn, ist eigentlich nur
Arne Garborg mit fast allen seinen Werken dem deutschen
Leser zugänglich geworden. Es ist daher nur zu begreiflich,
dafs den gegenwärtigen Stand der norwegischen Litteratur
zu kennen meint, wer die letzten Werke Ibsens, Björnsons
und Jonas Lies gelesen hat.
Damit wird aber ein völlig falsches Bild gewonnen; denn
von Ibsen und Björnson mufs wohl zugestanden werden, dafs
sie in den letzten Jahren ihren Besitzstand nur behauptet und
nicht erweitert haben, und Jonas Lies Märchen, die eine be-
deutende Besitzerweiterung darstellen, sind in Deutschland
nicht bekannt geworden.
"Wer den derzeitigen Stand der norwegischen Littera-
tur erfassen will, wird gut thun, zehn Jahre zurückzugehn.
Damals schon — und eigentlich früher noch, — als Ibsens
und Björnsons Dramen in Deutschland ihren Siegeszug an-
traten und endlich verständnisvolle Würdigung fanden,
drangen in Norwegen jüngere Talente durch und machten
sich geltend auf Kosten der älteren Generation: die Arne
Garborg, Gunnar Heiberg, Hans Jäger und Christian Krogh.
Sie bestanden ihre Feuerprobe in dem sogenannten
Bohemestreit, einer der eigentümlichsten Revolten, die die
Litteratur- und Sittengeschichte aufzuweisen hat.
Dieser Streit, der offiziell mit dem Erscheinen von Hans
Jägers Roman „Aus der Christianiaboheme" (Dezember
1885) begann, war nicht blofs litterarischer Natur; ja die
C 173 D