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„lieber unsre Kraft" ein bestimmtes, in diesem Falle nicht zu
weites Programm entwickeln und im Fahrwasser der Diskus-
sionsdichtung segeln, sei es, dafs sie, wie Garborg in seinen
letzten Romanen, die Tendenz künstlerisch beherrschen.

Diese Stellungnahme zu den Zeitfragen ist der Haupt-
punkt, in dem sich die jüngste Generation, die Gebrüder
Krag und Obstfelder, von der älteren scheidet. Die sozialen
und politischen Ideen, für die Garborg eintrat und noch ein-
tritt, sind für die jüngste Generation, wie sich ihr Kritiker
ausdrückt, „weniger interessant", weil selbstverständlicher.
Die Ideen, für die die ältere Generation gekämpft und gelitten,
sind den Jüngsten nicht so teuer, als denen, die sie zum Siege
geführt haben; und die Mifsstände, die die gegenwärtige
Ordnung der sexuellen Verhältnisse mit sich bringt, empören
die Jüngsten nicht so stark, „die zu einem skeptischeren und
weniger kampflustigen Geschlecht gehören." Wenn Garborg
eine grofse soziale Neuordnung erhofft, so erweckt diese,
wie Hjalmar Christensen bemerkt, „je mehr sie aus dem
Nebel heraustritt und bestimmtere Konturen annimmt, bei
einer grofsen Gruppe der Jüngern um so gröfsere Antipathie."

Das letzte Jahr hat von dem Hauptvertreter der Jüngsten,
von Vilhelm Krag, einen Roman gebracht, in dem sich die
Anschauungen der jüngsten Generation am besten wieder-
spiegeln. Man kann ihn einen Weltanschauungsroman nennen
in dem Sinne, wie etwa Jacobsens „Niels Lyhne" einer ist.
Dem Helden von „Heimweh" wird, als er sich weigert, am
politischen Leben teilzunehmen, zugerufen: „Dann gehören
Sie zu den fremden Leuten hierzulande — denen, die mit
unserm Leben und unsrer Arbeit nichts zu thun haben", und
der junge Mann fühlt, dafs damit sein innerstes Wesen ge-
zeichnet ist. Derselbe Vilhelm Krag bekennt persönlich in
einem Gedicht, dafs er „weder Glauben noch Kraft" hat, um
für die Sache des Proletariats einzutreten, und erinnert daran,
dafs nicht blofs der arm ist, der kein Brot zu Hause hat, son-
dern „jeder, der sich im Lande des Ernstes einsam und fremd
fühlt".

Aber was ist im Grunde dieser „Fremde" und „Einsame"
anders als der von Jäger charakterisierte Bohemien in neuer
Einkleidung? Nur dafs hier noch die tiefe Resignation hin-
zukommt, die nicht wider den Stachel locken und nur das
eigne Leben leben und den eignen Tod sterben will; für die

Krag das ergreifende Wort gefunden hat: ich will nichts
andres, als „das Laub spriefsen und das Laub fallen sehn".

Der „Bohemien" hat den Kampf gegen die bestehende
Gesellschaft und seine reformatorischen Bestrebungen auf-
gegeben, und ist dafür ein Priester der Natur geworden. Fremd
und einsam, wie er sich nun einmal fühlt, findet er einen
festen Standpunkt in dem mystischen Glauben an das Leben.
„Ja, ich liebe dich, Erde," heifst es bei Vilhelm Krag, „denn
du bist die reiche und die ewige, du bist die rätselhafte und
allmächtige, da dein Wesen Werden und Vergehn, Geburt
und Tod in sich schliefst. Du bist die Feindin der Welt, da
deine Unvergänglichkeit alle Form sprengt und den kon-
struierten Mechanismus des Alltags und der Systeme in Un-
ordnung bringt." Und ebenso kommt in Thomas Krags
Werken, in „Jon Gräff" und vor Allem in seinem letzten
Romane „Die Kupferschlange" ein mystischer Naturglaube
zum Worte. „Tauch unter in der Offenbarung, die das Leben
in allen Formen ist" verkündet der Philosoph des letzten
Buches.

Die mystische Kraft, die die Natur, das Meer, den Wald,
die Ebene, das Gebirg mit dem Menschen verbindet, ist der
rote Faden geworden, der durch alle Dichtungen der jüngsten
Generation hindurchgeht.

Aber dieser Mystizismus hat weitere Kreise erfafst, er
tritt nicht nur in den Werken der jüngsten Generation zu
Tage. Er hat Widerklang gefunden in Jonas Lie (Märchen),
in Arne Garborg (Haugtussa), in Knut Hamsun (Pan), in
dem tiefen Psychologen Mons Lie (Buch eines Träumers).

Hand in Hand mit der Abwendung vom Realismus ist
— in gleicher Entwicklungsfolge wie in Deutschland und in
Frankreich — eine Verfeinerung des Stils eingetreten. Die
Romane von Vilhelm und Thomas Krag, Hamsuns Pan,
Obstfelders Noveletten sind überreich an Stimmungsbildern
feinster stilistischer Kunst, man kann sagen an Gedichten in
Prosa, derengleichen vor 10 Jahren nirgends zu finden ist,
nur hie und da bei Björnson, wenn ihm nicht der Problem-
dichter im Nacken safs.

Endlich hat dieser neue Geist in der norwegischen Dich-
tung Garborg zum Lyriker werden lassen (Haugtussa) und
in Vilhelm Krag einen lyrischen Interpreten allerersten Rangs
gefunden. Gustav Morgenstern.

G 176 D
 
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