KINDERGRAB
VON
ANNA CROISSANT-RUST
Wie der Föhn weht durch die Nacht! Ueber die Berge weht er, über
die Weiten. Ueber den Schnee streicht er, über den feuchten Grund. Wasser
sickert in die Erde, in die dunkle, schwere Erde.
Nafs ist dein Bett und kalt, mein Kind! O du, dafs du schläfst!
Wach auf! wach auf! Deine Mutter ruft. Meine Arme warten auf dich und
wollen dich bergen, wollen dich tragen, wollen dich wärmen. Wach auf!
Meine Brust sehnt sich nach dir, will dich nähren, will dich betten.
Hörst du mich nicht? Horche nicht auf das Wehen des Windes, auf
den Tropfenfall des Wassers, horch auf deine Mutter!
Meine Lippen wissen Liebesworte, die sie nie sagen, wissen Küsse, die
sie nie küssen konnten. Wie sie mich pressen, die Worte! wie sie mich brennen
die Küsse! Mehr, o viel mehr, als die Thränen, die ich um dich geweint!
O, dafs du von mir gehen konntest, und dafs du schlafen kannst, wenn
ich dich rufe!
Wach auf und komm!
Ich weifs ein trauliches Zimmer. Der Schnee flockt draufsen nieder,
Dächer und Giebel sind weifs verschneit, aber ein kleiner Krokus blüht am
Fenster; mit vielen, vielen Knospen wartet er, mit vielen, vielen hellgrünen
Blätterspitzen streckt er sich aus dem feuchtwarmen, dunklen Grund an's Licht.
Siehst du ihn?
Schau, wie die Flocken draufsen tanzen! Und herinnen tanzt das Feuer-
lein, Feuerlein im Ofen! Es will spielen mit dir! Fangen sollst du's! Wie
C 207 b
VON
ANNA CROISSANT-RUST
Wie der Föhn weht durch die Nacht! Ueber die Berge weht er, über
die Weiten. Ueber den Schnee streicht er, über den feuchten Grund. Wasser
sickert in die Erde, in die dunkle, schwere Erde.
Nafs ist dein Bett und kalt, mein Kind! O du, dafs du schläfst!
Wach auf! wach auf! Deine Mutter ruft. Meine Arme warten auf dich und
wollen dich bergen, wollen dich tragen, wollen dich wärmen. Wach auf!
Meine Brust sehnt sich nach dir, will dich nähren, will dich betten.
Hörst du mich nicht? Horche nicht auf das Wehen des Windes, auf
den Tropfenfall des Wassers, horch auf deine Mutter!
Meine Lippen wissen Liebesworte, die sie nie sagen, wissen Küsse, die
sie nie küssen konnten. Wie sie mich pressen, die Worte! wie sie mich brennen
die Küsse! Mehr, o viel mehr, als die Thränen, die ich um dich geweint!
O, dafs du von mir gehen konntest, und dafs du schlafen kannst, wenn
ich dich rufe!
Wach auf und komm!
Ich weifs ein trauliches Zimmer. Der Schnee flockt draufsen nieder,
Dächer und Giebel sind weifs verschneit, aber ein kleiner Krokus blüht am
Fenster; mit vielen, vielen Knospen wartet er, mit vielen, vielen hellgrünen
Blätterspitzen streckt er sich aus dem feuchtwarmen, dunklen Grund an's Licht.
Siehst du ihn?
Schau, wie die Flocken draufsen tanzen! Und herinnen tanzt das Feuer-
lein, Feuerlein im Ofen! Es will spielen mit dir! Fangen sollst du's! Wie
C 207 b