NEUE ZIELE
AUS „HANS HARTWIGS HOELLENFAHRT"
VON
MAX HALBE
JETZT sollte sein Leben von Neuem einsetzen. Kühl und
klar wie dieser Novembermorgen, der rosig dämmernd
soeben über der erwachenden Weltstadt heraufstieg,
spannte die Zukunft sich vor ihm aus. Weit hinaus in ihre
Ferne sandte er den erahnenden Blick und atmete schneller,
da er gedachte, dafs nun seines Wesens letzte und höchste
Erfüllung sich nahe.
Heifse Stürme junger Jahre waren verbraust. Unklares
Wollen, dunkles Gähren, wilder Kräfte zweckloses Wider-
spiel -------wie weit lag das Alles hinter ihm! Kaum be-
griff er in diesem Augenblick, dafs der junge flaumbärtige
Mensch, der einst mit einem mäfsigen Koffer voll juristischer
Bücher und einem riesigen Sack abenteuerlicher Hoffnungen
in diese fremde, überwältigende Stadt eingezogen war, und
er, der dreifsigjährige siegreiche Mann, von ein und dem
gleichen Fleisch und Blute sein sollten. Unwillkürlich sah
er an sich hinunter, ob er eine Aehnlichkeit entdecken
könne zwischen sich selbst und jenem fernen, fremden Wesen,
das auch wieder er selbst gewesen sein sollte. Aber die Kette,
die ihn mit der Vergangenheit verband, war zerrissen. Kein
Funke des Erkennens blitzte hin und wieder. War es nicht
wie eine andre Existenz, die keinen Zug mehr mit der seini-
gen gemein hatte, wie eine frühere Erdenform, aus der er
sich durch Untergang und Tod emporgerungen hatte zu dieser
neuen höheren, lichteren Wesenheit? Wie seltsam dies Alles
und unheimlich zumal! Und das Wunderlichste von Allem,
dafs er dies von sich wufste und seinen vorigen Menschen
wie eine abgestreifte Hülle gleichgiltig übersah! Und da zer-
brachen sie sich den Kopf, wie es wohl mit einem Jenseits
beschaffen sein könne, da doch der Feinere schon im Erden-
diesseits tausend Tode starb und tausendundeinmal wieder-
geboren Stufe um Stufe langsam emporklomm, indefs die
niedere im Nebelgrau der Vergessenheit untersank.
Du warst! ich aber bin! flüsterte Hans Hartwig vor
sich hin.
So trat er aus dem Ameisengewimmel des Bahnhofs in
den Frühlärm der Strafse. Ein paar letzte Sterne ihm zu
Häupten verblichen an dem blaugrauen Himmel. Frisch und
frostig atmete ihm der junge Tag entgegen. Eilige Arbeiter-
tritte klappten auf dem Pflaster.
Die erste Pferdebahn rollte dumpf in den Schienen. Der
Kampf um das Leben, der einige Stunden gerastet hatte,
C 211 D
27*
AUS „HANS HARTWIGS HOELLENFAHRT"
VON
MAX HALBE
JETZT sollte sein Leben von Neuem einsetzen. Kühl und
klar wie dieser Novembermorgen, der rosig dämmernd
soeben über der erwachenden Weltstadt heraufstieg,
spannte die Zukunft sich vor ihm aus. Weit hinaus in ihre
Ferne sandte er den erahnenden Blick und atmete schneller,
da er gedachte, dafs nun seines Wesens letzte und höchste
Erfüllung sich nahe.
Heifse Stürme junger Jahre waren verbraust. Unklares
Wollen, dunkles Gähren, wilder Kräfte zweckloses Wider-
spiel -------wie weit lag das Alles hinter ihm! Kaum be-
griff er in diesem Augenblick, dafs der junge flaumbärtige
Mensch, der einst mit einem mäfsigen Koffer voll juristischer
Bücher und einem riesigen Sack abenteuerlicher Hoffnungen
in diese fremde, überwältigende Stadt eingezogen war, und
er, der dreifsigjährige siegreiche Mann, von ein und dem
gleichen Fleisch und Blute sein sollten. Unwillkürlich sah
er an sich hinunter, ob er eine Aehnlichkeit entdecken
könne zwischen sich selbst und jenem fernen, fremden Wesen,
das auch wieder er selbst gewesen sein sollte. Aber die Kette,
die ihn mit der Vergangenheit verband, war zerrissen. Kein
Funke des Erkennens blitzte hin und wieder. War es nicht
wie eine andre Existenz, die keinen Zug mehr mit der seini-
gen gemein hatte, wie eine frühere Erdenform, aus der er
sich durch Untergang und Tod emporgerungen hatte zu dieser
neuen höheren, lichteren Wesenheit? Wie seltsam dies Alles
und unheimlich zumal! Und das Wunderlichste von Allem,
dafs er dies von sich wufste und seinen vorigen Menschen
wie eine abgestreifte Hülle gleichgiltig übersah! Und da zer-
brachen sie sich den Kopf, wie es wohl mit einem Jenseits
beschaffen sein könne, da doch der Feinere schon im Erden-
diesseits tausend Tode starb und tausendundeinmal wieder-
geboren Stufe um Stufe langsam emporklomm, indefs die
niedere im Nebelgrau der Vergessenheit untersank.
Du warst! ich aber bin! flüsterte Hans Hartwig vor
sich hin.
So trat er aus dem Ameisengewimmel des Bahnhofs in
den Frühlärm der Strafse. Ein paar letzte Sterne ihm zu
Häupten verblichen an dem blaugrauen Himmel. Frisch und
frostig atmete ihm der junge Tag entgegen. Eilige Arbeiter-
tritte klappten auf dem Pflaster.
Die erste Pferdebahn rollte dumpf in den Schienen. Der
Kampf um das Leben, der einige Stunden gerastet hatte,
C 211 D
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