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bildungsstolzen Berliner stets „das Mädchen aus der Fremde"
bleiben.

Wo aber war die Natur, die Wahrheit, die man forderte,
in der Anlage und Ausstattung des bürgerlichen Wohnhauses ?
An der Ludwigstrasse in München steht eine Reihe von
trockenen, ärmlich-vornehmen Palastfacaden, hinter denen
Mietwohnungen sich verbergen. Hier sieht man Thore, in
deren nie zu öffnenden Holzverschlufs Fenster eingeschnitten
sind; denn hinter den Thorbogen, die nur aus Gründen der
Symmetrie als Gegenstücke zu dem wirklichen Thore an-
geordnet sind, liegen Wohnzimmer.

Und welche architektonischen Lügen erst an den öden
Bauten in der Maximilianstrafse! Der „neue Stil", der hier
ins Leben treten sollte, war nichts, als eine ganz äufserliche
Verquickung pseudomonumentaler Phrasen.

Gröfserer Ehrlichkeit befleissigte sich die nun folgende
Renaissanceperiode; doch auch sie konnte sich noch nicht
frei machen von dem steifen Zwang konventionellen Formel-
wesens.

Weiter schritt in raschem Wandel die Wiederholung der
historischen Stile. Inwieweit die allgemeine Bevorzugung
von Barock, Rokoko und Zopf in der Gegenwart Modesache
ist, werden erst künftige Geschlechter richtig zu erkennen
vermögen. Wir wundern uns billig, dafs just um die Zeit,
da in Literatur und Malerei der Ruf „Zurück zur Natur!"
überlaut ertönte, in den tektonischen Künsten das Barock die
Vorherrschaft gewann. „Das war ehedem paradox; aber nun
bestätigt es die Zeit."

Naturalismus und Barock — das Nebeneinander ist nicht
gar so merkwürdig, wie es auf den ersten Blick scheint. Die
Gegensätze berühren sich. Das Barock des Bernini, selbst das
Rokoko ■— wieviel naturalistische Elemente enthalten sie!
Und neuerdings die Musik Richard Wagners! Die Einen
finden sie naturalistisch, die Andern barock. Beide haben in
gewissem Grade Recht.

Man hat auch von Naturalismus in der modernen Archi-
tektur gesprochen. Der Ausdruck ist ohne Zweifel schief,
mifsverständlich; denn die Architektur ist keine Natur nach-
ahmende Kunst. Dennoch hat es einen verständlichen Sinn.
Das, was man damit meint, würde allerdings treffender als
Realismus bezeichnet.

Realismus in der Architektur, das ist die weitgehendste
Berücksichtigung der realen Werdebedingungen eines Bau-
werks, die möglichst vollkommene Erfüllung der Forderungen
der Zweckmäfsigkeit, Bequemlichkeit, Gesundheitsförderlich-
keit, mit einem Wort: die Sachlichkeit. Aber das ist noch
nicht Alles. Wie der Realismus der Dichtung als eine seiner
Hauptaufgaben es betrachtet, den Zusammenhang der Cha-
raktere mit ihrem Milieu scharf in's Auge zu fassen, so sieht
die verwandte Richtung in der Architektur ein vor allem
erstrebenswertes Ziel künstlerischer Wahrhaftigkeit darin,
den Charakter eines Bauwerks nicht aus seiner Zweckbestim-
mung allein, sondern auch aus dem Milieu, aus der Eigenart
der jeweilig vorhandenen Baustoffe, aus der landschaftlich
und geschichtlich bedingten Stimmung der Oertlichkeit heraus
zu entwickeln.

Solchem gesunden Realismus huldigt denn auch die
Architektengruppe, deren Haupt Meister Gabriel Seidl ist,
der feinsinnigste und konsequenteste Vertreter Münchener
Eigenart in bürgerlicher Baukunst und Kunstgewerbe. Der

Anschlufs dieser Gruppe an die alte heimische Bauweise des
süddeutschen bürgerlichen Barocks ist darum mehr als eine
Mode; er bedeutet in mehr als einer Hinsicht die Rückkehr
zur Sachlichkeit, zur Natürlichkeit, zu prunkloser, gut bürger-
licher Gediegenheit ohne Phrase, ohne falschen Schein.

Die starke Ueberzeugungskraft innerer Gesundheit be-
währte der „Seidlstil" zunächst in der künstlerischen Ver-
edlung einer besonders charakteristischen Seite des Münchener
Lebens, in der Einrichtung und Ausschmückung von Sälen
und Hallen der grofsen Kellerwirtschaften und von Kneip-
stuben aller Art. Wie traulich, wie vornehm-behaglich, wie
unübertrefflich stimmungsvoll sind alle derartigen Anlagen,
die Gabriel und Emanuel Seidl in München und an anderen
Orten schufen! Welch ein Fortschritt gegenüber der sonst
üblichen Ausstattung von grofsstädtischen Gastlokalen mit
dem schwülstigen Behang prahlerischer, von Renaissance-
palästen und Rokokoschlössern erborgter Bettelfetzen!

Nicht minder charaktervoll und fein empfunden wirken
Seidl'sche Wohnhausbauten, jene Malerhäuser zum Beispiel
am Rande der Theresienwiese, der klassischen Stätte Mün-
chener Volkslebens. Es liegt etwas von der biederen Gut-
mütigkeit des Oberbayern in diesen breit und behäbig hin-
gelagerten Baumassen mit den weich geschwungenen Giebeln
den hohen mit Ziegeln gedeckten Mansarddächern, den ein-
fach gegliederten Putzwänden, von deren weifs oder gelb ge-
tönten Flächen grüne Fensterläden freundlich sich abheben.
Keine mit aufdringlicher Absichtlichkeit auf malerische Wir-
kung berechneten Vor- und Rücksprünge; die geschlossene
Umrifslinie dabei dennoch fein abgewogen; wenige Gesimse
und sonstige Profilierungen; alles flächig im echten Putzcha-
rakter gehalten; da und dort ein gut modelliertes Stuckorna-
ment an der richtigen Stelle; die Fensteröffnungen ohne Zwang
nach dem Bedarf im Innern angeordnet, im Erdgeschofs meist
breit, von einem gedrückten Bogen überspannt und durch
braun oder mattgrün gestrichene Holzsprossen geteilt: so sind
die Ansprüche einfach-behaglichen Wohnens, wie der schlichte
Bayer sie stellt, mit ehrlichen, gediegenen künstlerischen
Mitteln ohne hohles Prunken erfüllt, mit Mitteln, die der
heimische Boden in natürlichem Wachstum hervorgebracht
hat. Wer es sieht, wird nicht im Zweifel sein: hier ist echter
Münchener Stil.

;IS zur Mitte des vorigen Jahrhunderts noch
hatten die bürgerlichen Wohnhäuser
Münchens gröfstenteils ihr aus der gothi-
schenZeit stammendes Aussehen bewahrt:
glatt geputzte Fronten, mit Ausnahme
eines da und dort vorspringenden Erkers
ohne alle architektonische Gliederung,
meist aber durch Bemalung geschmückt.

Verrät die Facadenmalerei die Beziehungen der Münchener
Kunst zu Oberitalien, die in der Folgezeit stets rege geblieben
sind, so zeigt jener mittelalterliche Wohnhaustypus schon
die für Münchens bürgerliche Baukunst bis zur Gegenwart
charakteristisch gebliebeneEigentümlichkeit: das Vorherrschen
des Putzbaues infolge Mangels an billig zu beschaffendem
Werkstein.

ff 249 B

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